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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Sehr, sehr Vieles in diesem unseligen Leben wird nur die gutmüthige
Schwäche entschuldigen wollen. Wir rechnen zu diesem Vielen nicht gerade die
Sünden der Jugend und Schönheit. Byrons grenzenlosen Leichtsinn im Ver¬
kehr mit Frauen, der allen literarischen Basen unerschöpflichen Stoff geboten
hat. Wir meinen, über diese höchstpersönliche unter allen sittlichen Fragen ge¬
ziemt dem Manne einige Zurückhaltung des Urtheils -- so lange unsre Sitten¬
richter trotz einer Ausdauer, die einer besseren Sache würdig wäre, den Punkt
noch nicht entdeckt haben, wo die Verehrung der Frauen aufhört ein Vorzug
und anfängt eine Sünde zu sein. Wer den Zauber, der Frauenherzen gewinnt
-- "prouä contläsuce" -- so genau kannte wie Byron und ihn mit so wunder¬
barem Geschick und Erfolg zu üben wußte, der hatte wohl ein Recht auf das
milde Urtheil, daß ein sehr ernster englischer Dichter, Rogers, ihm auf sein
Grab schrieb:


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Byrons Schuld liegt nicht in solchen Verirrungen des heißen Blutes,
sie liegt tiefer, sie ist echt tragisch. Nirgends in diesem reichen Leben begegnen
wir dem Gedanken der Pflicht. Das angeborene natürliche Gefühl war der
einzige Führer seines Daseins, und wenn es ihn mitten im Taumel der Leiden¬
schaft vor der baaren Gemeinheit bewahrte, so hat doch diese souveräne Will¬
kür der Empfindung ein reiches Menschenleben zerrüttet und zu einem Räthsel
gemacht für Byron selber. Sehr selten nur können wir erkennen, und sehr
selten nur wußte Byron selbst, wo in seinem Thun der kecke Trotz gegen das
Urtheil der Welt begann und wo jene nordische Keuschheit der Empfindung
aufhörte, die sich scheut, ihre Weichheit vor den Leuten zu zeigen und selbst den
Schein der Heuchelei vermeidet. Dem Leichenzuge seiner Mutter verschmäht er
zu folgen, er ficht, derweil der Sarg zum Grabe geht, mit einem Freunde
seinen gewohnten Faustkampf, nur wilder, ungestümer denn gewöhnlich: --und
in der Nacht zuvor hat ihn die Dienerin allein in bitteren Thränen an der
Bahre der Mutter gesunde"! Desgleichen hat Byron selbst sich nie darüber
Rechenschaft gegeben, ob sein zur Schau getragener Menschenhaß ein Selbst¬
betrug oder eine echte Empfindung war. Wir tonnen freilich Macaulays Wor¬
ten nicht schlechthin zustimmen: "wer die Menschen wirklich haßt, läßt nicht
alljährlich einige Bände drucken." Die Menschen wirklich zu hassen ist Unsinn,
ist dem gesunden Menschen unmöglich. Wer diese Empfindung folgerichtig fest¬
hält, wird wahnsinnig wie Timon von Athen, und wir kennen manche große
Fürsten und Denker, die eine tiefe aufrichtige Verachtung der Menschheit in der
Seele trugen und dennoch ihr Lebtag im Schweiße ihres Angesichts zum Heile der
Mißachteten arbeiteten. Der gleiche Widerspruch offenbarte sich in Byron, nur


Sehr, sehr Vieles in diesem unseligen Leben wird nur die gutmüthige
Schwäche entschuldigen wollen. Wir rechnen zu diesem Vielen nicht gerade die
Sünden der Jugend und Schönheit. Byrons grenzenlosen Leichtsinn im Ver¬
kehr mit Frauen, der allen literarischen Basen unerschöpflichen Stoff geboten
hat. Wir meinen, über diese höchstpersönliche unter allen sittlichen Fragen ge¬
ziemt dem Manne einige Zurückhaltung des Urtheils — so lange unsre Sitten¬
richter trotz einer Ausdauer, die einer besseren Sache würdig wäre, den Punkt
noch nicht entdeckt haben, wo die Verehrung der Frauen aufhört ein Vorzug
und anfängt eine Sünde zu sein. Wer den Zauber, der Frauenherzen gewinnt
— „prouä contläsuce" — so genau kannte wie Byron und ihn mit so wunder¬
barem Geschick und Erfolg zu üben wußte, der hatte wohl ein Recht auf das
milde Urtheil, daß ein sehr ernster englischer Dichter, Rogers, ihm auf sein
Grab schrieb:


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Byrons Schuld liegt nicht in solchen Verirrungen des heißen Blutes,
sie liegt tiefer, sie ist echt tragisch. Nirgends in diesem reichen Leben begegnen
wir dem Gedanken der Pflicht. Das angeborene natürliche Gefühl war der
einzige Führer seines Daseins, und wenn es ihn mitten im Taumel der Leiden¬
schaft vor der baaren Gemeinheit bewahrte, so hat doch diese souveräne Will¬
kür der Empfindung ein reiches Menschenleben zerrüttet und zu einem Räthsel
gemacht für Byron selber. Sehr selten nur können wir erkennen, und sehr
selten nur wußte Byron selbst, wo in seinem Thun der kecke Trotz gegen das
Urtheil der Welt begann und wo jene nordische Keuschheit der Empfindung
aufhörte, die sich scheut, ihre Weichheit vor den Leuten zu zeigen und selbst den
Schein der Heuchelei vermeidet. Dem Leichenzuge seiner Mutter verschmäht er
zu folgen, er ficht, derweil der Sarg zum Grabe geht, mit einem Freunde
seinen gewohnten Faustkampf, nur wilder, ungestümer denn gewöhnlich: —und
in der Nacht zuvor hat ihn die Dienerin allein in bitteren Thränen an der
Bahre der Mutter gesunde»! Desgleichen hat Byron selbst sich nie darüber
Rechenschaft gegeben, ob sein zur Schau getragener Menschenhaß ein Selbst¬
betrug oder eine echte Empfindung war. Wir tonnen freilich Macaulays Wor¬
ten nicht schlechthin zustimmen: „wer die Menschen wirklich haßt, läßt nicht
alljährlich einige Bände drucken." Die Menschen wirklich zu hassen ist Unsinn,
ist dem gesunden Menschen unmöglich. Wer diese Empfindung folgerichtig fest¬
hält, wird wahnsinnig wie Timon von Athen, und wir kennen manche große
Fürsten und Denker, die eine tiefe aufrichtige Verachtung der Menschheit in der
Seele trugen und dennoch ihr Lebtag im Schweiße ihres Angesichts zum Heile der
Mißachteten arbeiteten. Der gleiche Widerspruch offenbarte sich in Byron, nur


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/66>, abgerufen am 31.05.2024.