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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band.

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Ungarn und Siebenbürgen dagegen 250.000, auf die europäische Türkei über
300.000. auf Frankreich so viele wie auf Nußland, auf Holland und Italien
je 80,000, auf England 30,000, auf Belgien und die skandinavischen Länder
je 4 bis S,000, auf die Schweiz nur 1,100 Juden gerechnet.

Die Judengemeinden Polens und Rußlands bis nach Sibirien hinein, und
ebenso die in Ungarn und den untern Donauländern bis Galacz hinab bedie¬
nen sich sämmtlich im Verkehr unter sich des Deutschen und heißen deshalb
hebräisch Aschkenasim, von Aschkenas, Deutschland. Die Juden im Süden
der europäischen Türkei, in Kleinasien, Syrien und Nordafrika dagegen sprechen,
soweit sie nicht'aus neuern Einwanderern von Osteuropa her bestehen, ein ver¬
dorbenes Spanisch und werden deshalb und wegen ihrer Abstammung von den
1492 vertriebenen spanischen Juden Sephardim, Spanier genannt.

Die Zahl der in Asien lebenden Juden wird -- jedenfalls zu niedrig --
auf 250.000, die der in Afrika angesiedelten -- gleichfalls zu niedrig -- auf
eine halbe Million veranschlagt, und in Amerika sollen sich jetzt circa S0.000
niedergelassen haben.

Im Folgenden betrachten wir zunächst, was wir durch neuere Reisende
von den Juden in den Mittelmeerländern, im östlichen Asien und in Afrika
wissen, dann die Sagen und Fabeln, welche, theils von dem Wunsch, etwas
über die verloren gcgangncn zehn Stämme zu erfahren, erzeugt, theils aus
gewissen begründeten Notizen erwachsen, sich um die Grenze des bekannten Ge¬
bietes, namentlich im Süden und Osten wie Nevelwolfen lagern.

U-eher die Levante gibt Fr an ki in seinein Reisebuch "Nach Jerusalem"
schäyenswerthe Auskunft nach selbstgesammclten Notizen. Auf Korfu leben nach
diesem Gewährsmann an 4,000, auf Zarte 2,000 Juden. Die meisten nähren
sich hier wie bei uns vom Handel, nur wenige von Handwerken, und nur
einige sind wohlhabend. Im Königreich Griechenland gibt es gegenwärtig
nur noch in der Stadt Challis auf der Insel Euböa eine jüdische Gemeinde,
die, von Venedig aus gegründet, seit etwa sechshundert Jahren besteht, sich im
häuslichen Verkehr des Spanischen bedient und circa 300 Seelen zählt. In
Athen existirten 18S4 nur zwei deutsche Judenfamilien, denen sich seitdem noch
einige von der Insel Zarte angeschlossen haben. Die Gemeinden, welche früher
in der Morea bestanden, sind im Freiheitskriege untergegangen.

Die Juden der Türkei stehen unter zwei Oberrabbinern, die beide in Kon¬
stantinopel residiren, und von denen der eine die politischen, der andere die
religiösen Angelegenheiten der israelitischen Unterthanen des Großherrn leitet.
Jener übt die Polizei, vertheilt die Steuern, schließt Verkäufe und Käufe von
Grundeigenthum ab und ernennt die Rabbiner für die Provinzialstädte. Dieser
schließt und löst Eben, nimmt Eide ab und hat das Recht, Vergehen gegen
Ceremonialgesetzc zu bestrafen. Konstantinopel zählt nahe an vierzigtausend


Ungarn und Siebenbürgen dagegen 250.000, auf die europäische Türkei über
300.000. auf Frankreich so viele wie auf Nußland, auf Holland und Italien
je 80,000, auf England 30,000, auf Belgien und die skandinavischen Länder
je 4 bis S,000, auf die Schweiz nur 1,100 Juden gerechnet.

Die Judengemeinden Polens und Rußlands bis nach Sibirien hinein, und
ebenso die in Ungarn und den untern Donauländern bis Galacz hinab bedie¬
nen sich sämmtlich im Verkehr unter sich des Deutschen und heißen deshalb
hebräisch Aschkenasim, von Aschkenas, Deutschland. Die Juden im Süden
der europäischen Türkei, in Kleinasien, Syrien und Nordafrika dagegen sprechen,
soweit sie nicht'aus neuern Einwanderern von Osteuropa her bestehen, ein ver¬
dorbenes Spanisch und werden deshalb und wegen ihrer Abstammung von den
1492 vertriebenen spanischen Juden Sephardim, Spanier genannt.

Die Zahl der in Asien lebenden Juden wird — jedenfalls zu niedrig —
auf 250.000, die der in Afrika angesiedelten — gleichfalls zu niedrig — auf
eine halbe Million veranschlagt, und in Amerika sollen sich jetzt circa S0.000
niedergelassen haben.

Im Folgenden betrachten wir zunächst, was wir durch neuere Reisende
von den Juden in den Mittelmeerländern, im östlichen Asien und in Afrika
wissen, dann die Sagen und Fabeln, welche, theils von dem Wunsch, etwas
über die verloren gcgangncn zehn Stämme zu erfahren, erzeugt, theils aus
gewissen begründeten Notizen erwachsen, sich um die Grenze des bekannten Ge¬
bietes, namentlich im Süden und Osten wie Nevelwolfen lagern.

U-eher die Levante gibt Fr an ki in seinein Reisebuch „Nach Jerusalem"
schäyenswerthe Auskunft nach selbstgesammclten Notizen. Auf Korfu leben nach
diesem Gewährsmann an 4,000, auf Zarte 2,000 Juden. Die meisten nähren
sich hier wie bei uns vom Handel, nur wenige von Handwerken, und nur
einige sind wohlhabend. Im Königreich Griechenland gibt es gegenwärtig
nur noch in der Stadt Challis auf der Insel Euböa eine jüdische Gemeinde,
die, von Venedig aus gegründet, seit etwa sechshundert Jahren besteht, sich im
häuslichen Verkehr des Spanischen bedient und circa 300 Seelen zählt. In
Athen existirten 18S4 nur zwei deutsche Judenfamilien, denen sich seitdem noch
einige von der Insel Zarte angeschlossen haben. Die Gemeinden, welche früher
in der Morea bestanden, sind im Freiheitskriege untergegangen.

Die Juden der Türkei stehen unter zwei Oberrabbinern, die beide in Kon¬
stantinopel residiren, und von denen der eine die politischen, der andere die
religiösen Angelegenheiten der israelitischen Unterthanen des Großherrn leitet.
Jener übt die Polizei, vertheilt die Steuern, schließt Verkäufe und Käufe von
Grundeigenthum ab und ernennt die Rabbiner für die Provinzialstädte. Dieser
schließt und löst Eben, nimmt Eide ab und hat das Recht, Vergehen gegen
Ceremonialgesetzc zu bestrafen. Konstantinopel zählt nahe an vierzigtausend


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[0072] Ungarn und Siebenbürgen dagegen 250.000, auf die europäische Türkei über 300.000. auf Frankreich so viele wie auf Nußland, auf Holland und Italien je 80,000, auf England 30,000, auf Belgien und die skandinavischen Länder je 4 bis S,000, auf die Schweiz nur 1,100 Juden gerechnet. Die Judengemeinden Polens und Rußlands bis nach Sibirien hinein, und ebenso die in Ungarn und den untern Donauländern bis Galacz hinab bedie¬ nen sich sämmtlich im Verkehr unter sich des Deutschen und heißen deshalb hebräisch Aschkenasim, von Aschkenas, Deutschland. Die Juden im Süden der europäischen Türkei, in Kleinasien, Syrien und Nordafrika dagegen sprechen, soweit sie nicht'aus neuern Einwanderern von Osteuropa her bestehen, ein ver¬ dorbenes Spanisch und werden deshalb und wegen ihrer Abstammung von den 1492 vertriebenen spanischen Juden Sephardim, Spanier genannt. Die Zahl der in Asien lebenden Juden wird — jedenfalls zu niedrig — auf 250.000, die der in Afrika angesiedelten — gleichfalls zu niedrig — auf eine halbe Million veranschlagt, und in Amerika sollen sich jetzt circa S0.000 niedergelassen haben. Im Folgenden betrachten wir zunächst, was wir durch neuere Reisende von den Juden in den Mittelmeerländern, im östlichen Asien und in Afrika wissen, dann die Sagen und Fabeln, welche, theils von dem Wunsch, etwas über die verloren gcgangncn zehn Stämme zu erfahren, erzeugt, theils aus gewissen begründeten Notizen erwachsen, sich um die Grenze des bekannten Ge¬ bietes, namentlich im Süden und Osten wie Nevelwolfen lagern. U-eher die Levante gibt Fr an ki in seinein Reisebuch „Nach Jerusalem" schäyenswerthe Auskunft nach selbstgesammclten Notizen. Auf Korfu leben nach diesem Gewährsmann an 4,000, auf Zarte 2,000 Juden. Die meisten nähren sich hier wie bei uns vom Handel, nur wenige von Handwerken, und nur einige sind wohlhabend. Im Königreich Griechenland gibt es gegenwärtig nur noch in der Stadt Challis auf der Insel Euböa eine jüdische Gemeinde, die, von Venedig aus gegründet, seit etwa sechshundert Jahren besteht, sich im häuslichen Verkehr des Spanischen bedient und circa 300 Seelen zählt. In Athen existirten 18S4 nur zwei deutsche Judenfamilien, denen sich seitdem noch einige von der Insel Zarte angeschlossen haben. Die Gemeinden, welche früher in der Morea bestanden, sind im Freiheitskriege untergegangen. Die Juden der Türkei stehen unter zwei Oberrabbinern, die beide in Kon¬ stantinopel residiren, und von denen der eine die politischen, der andere die religiösen Angelegenheiten der israelitischen Unterthanen des Großherrn leitet. Jener übt die Polizei, vertheilt die Steuern, schließt Verkäufe und Käufe von Grundeigenthum ab und ernennt die Rabbiner für die Provinzialstädte. Dieser schließt und löst Eben, nimmt Eide ab und hat das Recht, Vergehen gegen Ceremonialgesetzc zu bestrafen. Konstantinopel zählt nahe an vierzigtausend

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_115393/72>, abgerufen am 31.05.2024.