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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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scheu. Der Pole hat vielmehr sein Weib lieb und hält sie gut, und sie ver¬
dient in der Regel beides. Allerdings habe ich 1854 als Armenpfleger von
einer polnischen Schusiergescllcnwittwe gehört, "sie sei noch nicht so herunter,
um arbeiten zu müssen;" aber solche Fälle sind Ausnahmen. Weiber und
Männer sind sich gleich. Sie ruhen beide gern; müssen sie sich aber rühren oder^
haben sie den Segen des Fleißes gekostet, so sind sie arbeitsam und geschickt,
dabei willig und genügsam. Es mag überhaupt nicht bald ein in jeder, auch
in sittlicher Hinsicht bildungsfähigeres Volk geben, als die polnischen Landleute,
und wollten die Magnaten in wahrem Patriotismus aus Paris und Dresden
heimkehren und mit ihrem Volke leben, Leid und Freude, Arbeit und Ruhe
mit ihnen theilen, Parzellen ihres Grundbesitzes oder diesen ganz und gar zum
Musterfeld für ihre Bauern machen, sie würden bald statt des Phantoms, das
sie im Herzen tragen, das concrete Vaterland lieb gewinnen.

Ich sehe sie gern, die Bauern in ihren langen blauen Tuchröcken oder
Schafpelzen, die bis an die Knöchel herabreichen, mit ihren breiten weißen
Hemdkragen, die sie in die Höhe schlagen, und ihren viereckigen Mützen; ihre
Weiber mit den großen Kopftüchern, mit den bunten Umschlägen, den kurzen
langgestreiften Mänteln, welche schlichter deutscher Verstand für umgehängte
Unterröcke nehmen würde, mit ihrem Mieder und weiten Nock. Selbst wenn
sie Abends um das erleuchtete Heiligenbild knieen und in unverstandner An¬
dacht ihre Lieder absingen, macht das einen ganz andern Eindruck als etwa in
Reiße oder Köln.

Herr Diesterweg. der berühmte Staatsmann und Erfinder einer Pädagogik,
von deren hohem Werthe er selbst am meisten weiß, wolle mir noch gestatten,
im Widerspruch mit seinem 1858 erschienenen dreibändigen Geographiebuch zu
constatiren, daß wir keine Leibeignen mehr haben, und Herrn Körner, dessen
"Vaterlandsbuch" sonst manches Gute über die Provinz enthält, möchteich be¬
merken, daß die altpolnischen Hütten, deren Schindel- und Strohdach durch
Lücken dem Wind und dem Regen Eingang gewährt, deren Schornstein zer¬
fallen ist, deren kleine Schiebefenster zum Theil mit Papier verklebt sind, noch
keineswegs aufgehört haben zu existiren. Dann, daß der polnische Bauer ihn
noch heute mit dem xacis-in äonoA "ich fall zu Füßen" anreden und die ent¬
sprechende Bewegung im Lauf der Rede öfter wiederholen würde. Endlich,
daß noch ganz barbarisch gehauen wird. Auf dem Dominium eines be¬
kannten polnischen Freiheits-Phrasendrehers wurde im vorigen Jahre eine
Magd unter Außerachtsetzung aller Scham rin dem Kantschu gestrichen. Es
entsprach der Vorstellung, welche der Betreffende von dem künftigen Reiche
Polen hat, daß er dem Zuchtpolizeigericht seinen Inspector als den allein
Schuldigen präsentirte.

(Schluß dieses Briefes in nächster Ur.)




Grenjbotcn I. 1863. 23

scheu. Der Pole hat vielmehr sein Weib lieb und hält sie gut, und sie ver¬
dient in der Regel beides. Allerdings habe ich 1854 als Armenpfleger von
einer polnischen Schusiergescllcnwittwe gehört, „sie sei noch nicht so herunter,
um arbeiten zu müssen;" aber solche Fälle sind Ausnahmen. Weiber und
Männer sind sich gleich. Sie ruhen beide gern; müssen sie sich aber rühren oder^
haben sie den Segen des Fleißes gekostet, so sind sie arbeitsam und geschickt,
dabei willig und genügsam. Es mag überhaupt nicht bald ein in jeder, auch
in sittlicher Hinsicht bildungsfähigeres Volk geben, als die polnischen Landleute,
und wollten die Magnaten in wahrem Patriotismus aus Paris und Dresden
heimkehren und mit ihrem Volke leben, Leid und Freude, Arbeit und Ruhe
mit ihnen theilen, Parzellen ihres Grundbesitzes oder diesen ganz und gar zum
Musterfeld für ihre Bauern machen, sie würden bald statt des Phantoms, das
sie im Herzen tragen, das concrete Vaterland lieb gewinnen.

Ich sehe sie gern, die Bauern in ihren langen blauen Tuchröcken oder
Schafpelzen, die bis an die Knöchel herabreichen, mit ihren breiten weißen
Hemdkragen, die sie in die Höhe schlagen, und ihren viereckigen Mützen; ihre
Weiber mit den großen Kopftüchern, mit den bunten Umschlägen, den kurzen
langgestreiften Mänteln, welche schlichter deutscher Verstand für umgehängte
Unterröcke nehmen würde, mit ihrem Mieder und weiten Nock. Selbst wenn
sie Abends um das erleuchtete Heiligenbild knieen und in unverstandner An¬
dacht ihre Lieder absingen, macht das einen ganz andern Eindruck als etwa in
Reiße oder Köln.

Herr Diesterweg. der berühmte Staatsmann und Erfinder einer Pädagogik,
von deren hohem Werthe er selbst am meisten weiß, wolle mir noch gestatten,
im Widerspruch mit seinem 1858 erschienenen dreibändigen Geographiebuch zu
constatiren, daß wir keine Leibeignen mehr haben, und Herrn Körner, dessen
„Vaterlandsbuch" sonst manches Gute über die Provinz enthält, möchteich be¬
merken, daß die altpolnischen Hütten, deren Schindel- und Strohdach durch
Lücken dem Wind und dem Regen Eingang gewährt, deren Schornstein zer¬
fallen ist, deren kleine Schiebefenster zum Theil mit Papier verklebt sind, noch
keineswegs aufgehört haben zu existiren. Dann, daß der polnische Bauer ihn
noch heute mit dem xacis-in äonoA „ich fall zu Füßen" anreden und die ent¬
sprechende Bewegung im Lauf der Rede öfter wiederholen würde. Endlich,
daß noch ganz barbarisch gehauen wird. Auf dem Dominium eines be¬
kannten polnischen Freiheits-Phrasendrehers wurde im vorigen Jahre eine
Magd unter Außerachtsetzung aller Scham rin dem Kantschu gestrichen. Es
entsprach der Vorstellung, welche der Betreffende von dem künftigen Reiche
Polen hat, daß er dem Zuchtpolizeigericht seinen Inspector als den allein
Schuldigen präsentirte.

(Schluß dieses Briefes in nächster Ur.)




Grenjbotcn I. 1863. 23
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[0185] scheu. Der Pole hat vielmehr sein Weib lieb und hält sie gut, und sie ver¬ dient in der Regel beides. Allerdings habe ich 1854 als Armenpfleger von einer polnischen Schusiergescllcnwittwe gehört, „sie sei noch nicht so herunter, um arbeiten zu müssen;" aber solche Fälle sind Ausnahmen. Weiber und Männer sind sich gleich. Sie ruhen beide gern; müssen sie sich aber rühren oder^ haben sie den Segen des Fleißes gekostet, so sind sie arbeitsam und geschickt, dabei willig und genügsam. Es mag überhaupt nicht bald ein in jeder, auch in sittlicher Hinsicht bildungsfähigeres Volk geben, als die polnischen Landleute, und wollten die Magnaten in wahrem Patriotismus aus Paris und Dresden heimkehren und mit ihrem Volke leben, Leid und Freude, Arbeit und Ruhe mit ihnen theilen, Parzellen ihres Grundbesitzes oder diesen ganz und gar zum Musterfeld für ihre Bauern machen, sie würden bald statt des Phantoms, das sie im Herzen tragen, das concrete Vaterland lieb gewinnen. Ich sehe sie gern, die Bauern in ihren langen blauen Tuchröcken oder Schafpelzen, die bis an die Knöchel herabreichen, mit ihren breiten weißen Hemdkragen, die sie in die Höhe schlagen, und ihren viereckigen Mützen; ihre Weiber mit den großen Kopftüchern, mit den bunten Umschlägen, den kurzen langgestreiften Mänteln, welche schlichter deutscher Verstand für umgehängte Unterröcke nehmen würde, mit ihrem Mieder und weiten Nock. Selbst wenn sie Abends um das erleuchtete Heiligenbild knieen und in unverstandner An¬ dacht ihre Lieder absingen, macht das einen ganz andern Eindruck als etwa in Reiße oder Köln. Herr Diesterweg. der berühmte Staatsmann und Erfinder einer Pädagogik, von deren hohem Werthe er selbst am meisten weiß, wolle mir noch gestatten, im Widerspruch mit seinem 1858 erschienenen dreibändigen Geographiebuch zu constatiren, daß wir keine Leibeignen mehr haben, und Herrn Körner, dessen „Vaterlandsbuch" sonst manches Gute über die Provinz enthält, möchteich be¬ merken, daß die altpolnischen Hütten, deren Schindel- und Strohdach durch Lücken dem Wind und dem Regen Eingang gewährt, deren Schornstein zer¬ fallen ist, deren kleine Schiebefenster zum Theil mit Papier verklebt sind, noch keineswegs aufgehört haben zu existiren. Dann, daß der polnische Bauer ihn noch heute mit dem xacis-in äonoA „ich fall zu Füßen" anreden und die ent¬ sprechende Bewegung im Lauf der Rede öfter wiederholen würde. Endlich, daß noch ganz barbarisch gehauen wird. Auf dem Dominium eines be¬ kannten polnischen Freiheits-Phrasendrehers wurde im vorigen Jahre eine Magd unter Außerachtsetzung aller Scham rin dem Kantschu gestrichen. Es entsprach der Vorstellung, welche der Betreffende von dem künftigen Reiche Polen hat, daß er dem Zuchtpolizeigericht seinen Inspector als den allein Schuldigen präsentirte. (Schluß dieses Briefes in nächster Ur.) Grenjbotcn I. 1863. 23

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/185>, abgerufen am 07.05.2024.