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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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Seite gestellt hat. Mag Jemand, mag der rascheste Schreiber sich mit der Auf¬
gabe versuche", hundert Seiten Novellen in diesem Zeitraum nur zu copiren,
und er wird dann -- möglicher Weise entscheiden, daß die Leistung des Verfassers
von "Rockwood" ganz so unglaublich ist als die von Simonides.

3. Betrifft die achttausend Correcturen. Ziehe ich, wie ich mich um der
Unparteilichkeit willen zu thun verpflichtet habe, alle Möglichkeiten in Betracht,
so bin ich wohl berechtigt zu fragen: Wer gibt uns die Gewißheit, daß nicht
der bei weitem größere Theil derselben das Werk Tischendorfs selbst ist? Er
konnte ja das Manuscript des Simonides im Jahr 1844 im Kloster gesehen,
sich seine Geeignetheit, für eine Handschrift weit älterer Zeit ausgegeben zu
werden, bemerkt und in späterer Periode Alles hinzugethan haben, um ihr den
Charakter des allerehrwürdigsten Alterthums zu geben."

4. Daß der "Bibliothekar" die Quelle nicht kannte, welcher das Kloster
die Handschrift dankte, läßt sich leicht erklären. Burckhardt berichtet uns. daß
die meisten Mönche von den griechischen Inseln stammen, daß sie in der Regel
nicht länger als vier oder fünf Jahre im Kloster verweilen, daß nur wenige
von ihnen arabisch verstehen, daß wenige auch nur das moderne Griechisch flie¬
ßend lesen, außer in ihren Gebetbüchern, und daß er nur einen fand, welcher
einen Begriff vom Altgriechischen hatte. Er bemerkt, daß sie eine gute Biblio¬
thek hatten, daß dieselbe aber stets verschlossen war, womit er natürlich meinte,
daß die Mönche sich nie mit ihr beschäftigten. Können wir uns unter solchen
Umständen wundern, wenn der "Bibliothekar" des Jahres 1852 nichts von der
Ankunft des in Rede stehenden Manuscripts gewußt haben soll? Dasselbe
konnte ja mehre Jahre vor seiner eignen Ankunft gleichgültig in die "Biblio¬
thek" geworfen worden sein, und sicherlich würden die guten Mönche ihm dann
nie einen zweiten Blick zugewendet haben. Können wir uns wundern, wenn
Simonides, ihre Gleichgültigkeit bemerkend, der Meinung gewesen wäre, daß
irgend ein Anspruch auf Interesse an dem Manuscript von seiner Seite ebenso
gut hätte an die Wände als an die Mönche gerichtet werden können?

5. Was den Zustand der Handschrift in den Jahren 1844, 1852 und
1859 anlangt, so ist das lediglich ein Fall sich widersprechender Berichte, und
in der Vibelfrage darf Niemandes Aussage einen Gegner so stutzig machen, daß
weitere Untersuchung ein Ende hat.

6. Rücksichtlich der Kalligraphie und der Anordnung des Manuscripts erinnere
man sich, daß Simonides (wie mir scheint, ein Mann von unvergleichlich grö¬
ßerem Talent und Wissen, als Tischendorf je entwickelt hat) einmal ein Wert
über ägyptische Geschichte angefertigt hatte, welches sich für eine Schrift des
Uranios. des Historikers der Navathäer ausgab, und welches von den Mit¬
gliedern der Berliner Akademie für ächt erklärt wurde. Professor Dindorf, des¬
sen Gelehrsamkeit im Griechischen und griechischer Palävgraphie stark hervor-


Seite gestellt hat. Mag Jemand, mag der rascheste Schreiber sich mit der Auf¬
gabe versuche», hundert Seiten Novellen in diesem Zeitraum nur zu copiren,
und er wird dann — möglicher Weise entscheiden, daß die Leistung des Verfassers
von „Rockwood" ganz so unglaublich ist als die von Simonides.

3. Betrifft die achttausend Correcturen. Ziehe ich, wie ich mich um der
Unparteilichkeit willen zu thun verpflichtet habe, alle Möglichkeiten in Betracht,
so bin ich wohl berechtigt zu fragen: Wer gibt uns die Gewißheit, daß nicht
der bei weitem größere Theil derselben das Werk Tischendorfs selbst ist? Er
konnte ja das Manuscript des Simonides im Jahr 1844 im Kloster gesehen,
sich seine Geeignetheit, für eine Handschrift weit älterer Zeit ausgegeben zu
werden, bemerkt und in späterer Periode Alles hinzugethan haben, um ihr den
Charakter des allerehrwürdigsten Alterthums zu geben."

4. Daß der „Bibliothekar" die Quelle nicht kannte, welcher das Kloster
die Handschrift dankte, läßt sich leicht erklären. Burckhardt berichtet uns. daß
die meisten Mönche von den griechischen Inseln stammen, daß sie in der Regel
nicht länger als vier oder fünf Jahre im Kloster verweilen, daß nur wenige
von ihnen arabisch verstehen, daß wenige auch nur das moderne Griechisch flie¬
ßend lesen, außer in ihren Gebetbüchern, und daß er nur einen fand, welcher
einen Begriff vom Altgriechischen hatte. Er bemerkt, daß sie eine gute Biblio¬
thek hatten, daß dieselbe aber stets verschlossen war, womit er natürlich meinte,
daß die Mönche sich nie mit ihr beschäftigten. Können wir uns unter solchen
Umständen wundern, wenn der „Bibliothekar" des Jahres 1852 nichts von der
Ankunft des in Rede stehenden Manuscripts gewußt haben soll? Dasselbe
konnte ja mehre Jahre vor seiner eignen Ankunft gleichgültig in die „Biblio¬
thek" geworfen worden sein, und sicherlich würden die guten Mönche ihm dann
nie einen zweiten Blick zugewendet haben. Können wir uns wundern, wenn
Simonides, ihre Gleichgültigkeit bemerkend, der Meinung gewesen wäre, daß
irgend ein Anspruch auf Interesse an dem Manuscript von seiner Seite ebenso
gut hätte an die Wände als an die Mönche gerichtet werden können?

5. Was den Zustand der Handschrift in den Jahren 1844, 1852 und
1859 anlangt, so ist das lediglich ein Fall sich widersprechender Berichte, und
in der Vibelfrage darf Niemandes Aussage einen Gegner so stutzig machen, daß
weitere Untersuchung ein Ende hat.

6. Rücksichtlich der Kalligraphie und der Anordnung des Manuscripts erinnere
man sich, daß Simonides (wie mir scheint, ein Mann von unvergleichlich grö¬
ßerem Talent und Wissen, als Tischendorf je entwickelt hat) einmal ein Wert
über ägyptische Geschichte angefertigt hatte, welches sich für eine Schrift des
Uranios. des Historikers der Navathäer ausgab, und welches von den Mit¬
gliedern der Berliner Akademie für ächt erklärt wurde. Professor Dindorf, des¬
sen Gelehrsamkeit im Griechischen und griechischer Palävgraphie stark hervor-


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[0221] Seite gestellt hat. Mag Jemand, mag der rascheste Schreiber sich mit der Auf¬ gabe versuche», hundert Seiten Novellen in diesem Zeitraum nur zu copiren, und er wird dann — möglicher Weise entscheiden, daß die Leistung des Verfassers von „Rockwood" ganz so unglaublich ist als die von Simonides. 3. Betrifft die achttausend Correcturen. Ziehe ich, wie ich mich um der Unparteilichkeit willen zu thun verpflichtet habe, alle Möglichkeiten in Betracht, so bin ich wohl berechtigt zu fragen: Wer gibt uns die Gewißheit, daß nicht der bei weitem größere Theil derselben das Werk Tischendorfs selbst ist? Er konnte ja das Manuscript des Simonides im Jahr 1844 im Kloster gesehen, sich seine Geeignetheit, für eine Handschrift weit älterer Zeit ausgegeben zu werden, bemerkt und in späterer Periode Alles hinzugethan haben, um ihr den Charakter des allerehrwürdigsten Alterthums zu geben." 4. Daß der „Bibliothekar" die Quelle nicht kannte, welcher das Kloster die Handschrift dankte, läßt sich leicht erklären. Burckhardt berichtet uns. daß die meisten Mönche von den griechischen Inseln stammen, daß sie in der Regel nicht länger als vier oder fünf Jahre im Kloster verweilen, daß nur wenige von ihnen arabisch verstehen, daß wenige auch nur das moderne Griechisch flie¬ ßend lesen, außer in ihren Gebetbüchern, und daß er nur einen fand, welcher einen Begriff vom Altgriechischen hatte. Er bemerkt, daß sie eine gute Biblio¬ thek hatten, daß dieselbe aber stets verschlossen war, womit er natürlich meinte, daß die Mönche sich nie mit ihr beschäftigten. Können wir uns unter solchen Umständen wundern, wenn der „Bibliothekar" des Jahres 1852 nichts von der Ankunft des in Rede stehenden Manuscripts gewußt haben soll? Dasselbe konnte ja mehre Jahre vor seiner eignen Ankunft gleichgültig in die „Biblio¬ thek" geworfen worden sein, und sicherlich würden die guten Mönche ihm dann nie einen zweiten Blick zugewendet haben. Können wir uns wundern, wenn Simonides, ihre Gleichgültigkeit bemerkend, der Meinung gewesen wäre, daß irgend ein Anspruch auf Interesse an dem Manuscript von seiner Seite ebenso gut hätte an die Wände als an die Mönche gerichtet werden können? 5. Was den Zustand der Handschrift in den Jahren 1844, 1852 und 1859 anlangt, so ist das lediglich ein Fall sich widersprechender Berichte, und in der Vibelfrage darf Niemandes Aussage einen Gegner so stutzig machen, daß weitere Untersuchung ein Ende hat. 6. Rücksichtlich der Kalligraphie und der Anordnung des Manuscripts erinnere man sich, daß Simonides (wie mir scheint, ein Mann von unvergleichlich grö¬ ßerem Talent und Wissen, als Tischendorf je entwickelt hat) einmal ein Wert über ägyptische Geschichte angefertigt hatte, welches sich für eine Schrift des Uranios. des Historikers der Navathäer ausgab, und welches von den Mit¬ gliedern der Berliner Akademie für ächt erklärt wurde. Professor Dindorf, des¬ sen Gelehrsamkeit im Griechischen und griechischer Palävgraphie stark hervor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/221>, abgerufen am 14.05.2024.