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Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

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und gar verschleiert, steht das junge Paar unter dem Baldachin, der auf vier
Stäben empvrgehalten wird. Dieses Planchen ist heilig, die Umgebung ganz
indifferent. Synagoge, Platz neben der Kegelbahn, Schenkstube, alles das
kommt vor. Die Trauungscecemonien sind bekannt. Nachdem die 'Rebe, wo
fern eine solche bezahlt wird, gehalten, die Scherben zertreten und die vor-
geschriebenen Gebete von drei "Gelehrten" vorgelesen sind, nimmt der Copu¬
lator den Hut ab und sagt: Ich gratulire Ihnen. Das ist das Zeichen zur
Prosa, auch zur Lust; aber ehe man zur Tafel geht, muß der Sonnenunter-
gang abgewartet werden. Der Schmuck des Spnsesaalcs, der Gäste erinnert
an das Bild, welches uns gewandte Romanschreiber von dem Gegensatz zwischen
dem Werket- und dem Feiertage des Juden geben. Ueber Tisch jagen sich
gereimte Toaste. Israels Jugend bereitet sich lange vorher aus selbige vor
und declamirt sie mit Pathos "schlecht gereimt, doch gut gemeint". Zuletzt
hält der Rabbi eine Rede, in der er gewöhnlich ein biblisches oder talmudisches
Wort so lange foltert und quält, bis es einen Witz ober wenigstens ein Para¬
doxon von sich gibt. Daraus wandert der Opferteller für ihn herum, wenn
nicht der generöse Brautvater dies Servitut klingend abgelöst hat. Der Bräutigam
hat während der ganzen Zeit im Ornat gesessen. Der gute Junge ist Reformer
und Mitglied der deutschen Fortschrittspartei; aber es ward ihm bedeutet, er
müsse -- wir sind hier orthodox. Nun bricht man auf. Daß Franz von
Meris hier wäre! Zunächst der Thüre scherzen und necken sich die Jünglinge
und Jungfrauen, halb zwickauernd, halb die Zydöwla (Judenviertel) arg
compromittirend. Unterdeß räumt die sorgsame Mutter des Hauses mit Knechten
und Mägden den Tisch ab und bei all dem Geräusch halten die "Gelehrten" das
Tischgebet. Ihre Hüte, die ihnen gewiß Niemand vertauschen wird, diese un¬
vergänglichen Denkstücke aus den ältesten Zeiten, auf dem Kopfe, das vergilbte
Buch vor sich, lesen sie in singendem Tone unter beständigem Auf- und Nieder¬
bewegen des Oberleibes ihre Formeln ab. Das sind kosmopolitische Töne.
Dem Ohre des einzelnen Menschen bleiben sie ewig unverständlich. Ob sie
noch sitzen mögen, die alten schwarzen Männer, ich weiß es nicht; die Andern
noch weniger, denn die tanzen schon wieder unten, während oben noch gebetet
wird.

So wären wir denn zu dem Juden gekommen, diesem gepeinigten Peiniger,
diesem Märtyrer und Marterer unseres Volkes, diesem allerinteressantesten Gegen¬
stande unserer Culturgeschichte.

Gewiß, ein Stück Leidensgeschichte dieses Stammes ist mehr werth als die
ewig eintönige Leier der polnischen Jcremiaden. die ich Ihnen im sechsten Briefe
aufspielen soll. Lassen Sie mich hineingreifen. Seit dem elften, spätestens seit dem
dreizehnten Jahrhundert gab es Juden in Posen. Sie standen nicht unter städtischer
Jurisdiction; man wies den ungern gesehenen Gästen eine besondere Straße


und gar verschleiert, steht das junge Paar unter dem Baldachin, der auf vier
Stäben empvrgehalten wird. Dieses Planchen ist heilig, die Umgebung ganz
indifferent. Synagoge, Platz neben der Kegelbahn, Schenkstube, alles das
kommt vor. Die Trauungscecemonien sind bekannt. Nachdem die 'Rebe, wo
fern eine solche bezahlt wird, gehalten, die Scherben zertreten und die vor-
geschriebenen Gebete von drei „Gelehrten" vorgelesen sind, nimmt der Copu¬
lator den Hut ab und sagt: Ich gratulire Ihnen. Das ist das Zeichen zur
Prosa, auch zur Lust; aber ehe man zur Tafel geht, muß der Sonnenunter-
gang abgewartet werden. Der Schmuck des Spnsesaalcs, der Gäste erinnert
an das Bild, welches uns gewandte Romanschreiber von dem Gegensatz zwischen
dem Werket- und dem Feiertage des Juden geben. Ueber Tisch jagen sich
gereimte Toaste. Israels Jugend bereitet sich lange vorher aus selbige vor
und declamirt sie mit Pathos „schlecht gereimt, doch gut gemeint". Zuletzt
hält der Rabbi eine Rede, in der er gewöhnlich ein biblisches oder talmudisches
Wort so lange foltert und quält, bis es einen Witz ober wenigstens ein Para¬
doxon von sich gibt. Daraus wandert der Opferteller für ihn herum, wenn
nicht der generöse Brautvater dies Servitut klingend abgelöst hat. Der Bräutigam
hat während der ganzen Zeit im Ornat gesessen. Der gute Junge ist Reformer
und Mitglied der deutschen Fortschrittspartei; aber es ward ihm bedeutet, er
müsse — wir sind hier orthodox. Nun bricht man auf. Daß Franz von
Meris hier wäre! Zunächst der Thüre scherzen und necken sich die Jünglinge
und Jungfrauen, halb zwickauernd, halb die Zydöwla (Judenviertel) arg
compromittirend. Unterdeß räumt die sorgsame Mutter des Hauses mit Knechten
und Mägden den Tisch ab und bei all dem Geräusch halten die „Gelehrten" das
Tischgebet. Ihre Hüte, die ihnen gewiß Niemand vertauschen wird, diese un¬
vergänglichen Denkstücke aus den ältesten Zeiten, auf dem Kopfe, das vergilbte
Buch vor sich, lesen sie in singendem Tone unter beständigem Auf- und Nieder¬
bewegen des Oberleibes ihre Formeln ab. Das sind kosmopolitische Töne.
Dem Ohre des einzelnen Menschen bleiben sie ewig unverständlich. Ob sie
noch sitzen mögen, die alten schwarzen Männer, ich weiß es nicht; die Andern
noch weniger, denn die tanzen schon wieder unten, während oben noch gebetet
wird.

So wären wir denn zu dem Juden gekommen, diesem gepeinigten Peiniger,
diesem Märtyrer und Marterer unseres Volkes, diesem allerinteressantesten Gegen¬
stande unserer Culturgeschichte.

Gewiß, ein Stück Leidensgeschichte dieses Stammes ist mehr werth als die
ewig eintönige Leier der polnischen Jcremiaden. die ich Ihnen im sechsten Briefe
aufspielen soll. Lassen Sie mich hineingreifen. Seit dem elften, spätestens seit dem
dreizehnten Jahrhundert gab es Juden in Posen. Sie standen nicht unter städtischer
Jurisdiction; man wies den ungern gesehenen Gästen eine besondere Straße


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/240>, abgerufen am 28.04.2024.