Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Merkwürdigste ist, daß diese conventionelle Neutralität ihre Rückwirkung auch
auf die Kirchenhistorikcr ausgeübt hat: diesem Einflüsse verdanken wir die in
Anbetracht des Zelotismus der Zeit sehr unparteiisch gehaltenen Werke des
Sokrates und Sozomenus, .und das noch unparteiischere des Euagrius, bei dem
freilich mitunter der Argwohn aufsteigt, ob uns nicht absichtlich die beschämend¬
sten Seiten der Geschichte des Christenthums mit äußerlicher Betrübniß und
innerlichem Behagen vor die Augen geführt werden*). Theophylaktus Simo-
katta schrieb bald nach 610, Euagrius S93; mit jenem hört die politische, mit
diesem die kirchliche Geschichtschreibung völlig auf.

Um dieselbe Zeit aber fängt die byzantinische Chrvnikenliteratur an,
deren ältester und culturhistorisch merkwürdigster Repräsentant Joannes Malaka
unter Justin dem Zweiten (56S--578) schrieb, fast in jeder Beziehung das
gerade Gegenstück der Schule des Eunapius. Diese Weltchronikcn haben sich
aus Stadrchroniken entwickelt und ihren mehr noch spießbürgerlichen als
mönchischen Charakter nie verläugnet; der volksthümliche Ursprung und die
Bestimmung für das Volk ist schon in der barbarischen, an lateinischen und
syrischen Worten und Redewendungen der Septuaginta überreichen Sprache
deutlich ausgedrückt, die aber dem Wortgeklingel der höheren Geschichtschreibung
gegenüber etwas Erquickendes hat. Von historischer Kritik ist bei Malaka und
seinen Nachfolgern keine Spur: mit gleicher Gläubigkeit' wird Wichtiges und
Unwichtiges reproducirt, mit Vorliebe Theuerungen, Seuchen. Kometen und
alle möglichen Portenta, Erbeben, Bauten, die Angelegenheiten der Rennbahn.
Während Malaka über viele der wichtigsten Ereignisse der Regierung Justinians,
die er selbst mit erlebte, schweigt oder confuse Notizen gibt, widmet er dem
gelehrigen Hunde eines fahrenden Jtalieners eine ganze Seite. Bemerkens-
werth für den Einfluß des griechischen Romans sind die genauen Personal¬
beschreibungen der handelnden Personen, welche das ganze Buch durch¬
ziehen. Die Geschichte des Alterthums kennt Malaka nur durch einen homöo¬
pathisch verdünnten Auszug aus Julius Africanus; von der römischen Republik
weiß er buchstäblich nichts. Charakteristisch für seine correcte Gesinnung gegen
das Kaiserreich ist seine Darstellung der älteren Kaiscrgeschichte, in der vielleicht
aus Pädagogischen Rücksichten die Loyalität in ein förmliches System gebracht
'se: fast alle Kaiser sterben eines natürlichen Todes, wobei denn begreiflicher¬
weise die Diagnose am häusigsten auf Blutsturz oder Bräune lautet. Während



") Euagrius war nämlich ein Busenfreund des Patriarchen Gregor von Antioctuen, der
der vom Kaiser Tiberius gegen die syrischen Heiden eingeleiteten Untcrjuchung als heim-
I'aller Heide stark cvmpromulirt war und seine N, chlgläulugkeit durch einen Bcivns cihältcte,
dessen Bündigkeit den mit Lynchjustiz drohenden Antiochencru völlig einleuchtete. Andern oder
vielleicht weniger einleuchten wird: er baute der guten Stadt Antiochien auf seine Kosten
">n" neue Rennbahn.
Wrenzboten I. 1LLZ. 44

Merkwürdigste ist, daß diese conventionelle Neutralität ihre Rückwirkung auch
auf die Kirchenhistorikcr ausgeübt hat: diesem Einflüsse verdanken wir die in
Anbetracht des Zelotismus der Zeit sehr unparteiisch gehaltenen Werke des
Sokrates und Sozomenus, .und das noch unparteiischere des Euagrius, bei dem
freilich mitunter der Argwohn aufsteigt, ob uns nicht absichtlich die beschämend¬
sten Seiten der Geschichte des Christenthums mit äußerlicher Betrübniß und
innerlichem Behagen vor die Augen geführt werden*). Theophylaktus Simo-
katta schrieb bald nach 610, Euagrius S93; mit jenem hört die politische, mit
diesem die kirchliche Geschichtschreibung völlig auf.

Um dieselbe Zeit aber fängt die byzantinische Chrvnikenliteratur an,
deren ältester und culturhistorisch merkwürdigster Repräsentant Joannes Malaka
unter Justin dem Zweiten (56S—578) schrieb, fast in jeder Beziehung das
gerade Gegenstück der Schule des Eunapius. Diese Weltchronikcn haben sich
aus Stadrchroniken entwickelt und ihren mehr noch spießbürgerlichen als
mönchischen Charakter nie verläugnet; der volksthümliche Ursprung und die
Bestimmung für das Volk ist schon in der barbarischen, an lateinischen und
syrischen Worten und Redewendungen der Septuaginta überreichen Sprache
deutlich ausgedrückt, die aber dem Wortgeklingel der höheren Geschichtschreibung
gegenüber etwas Erquickendes hat. Von historischer Kritik ist bei Malaka und
seinen Nachfolgern keine Spur: mit gleicher Gläubigkeit' wird Wichtiges und
Unwichtiges reproducirt, mit Vorliebe Theuerungen, Seuchen. Kometen und
alle möglichen Portenta, Erbeben, Bauten, die Angelegenheiten der Rennbahn.
Während Malaka über viele der wichtigsten Ereignisse der Regierung Justinians,
die er selbst mit erlebte, schweigt oder confuse Notizen gibt, widmet er dem
gelehrigen Hunde eines fahrenden Jtalieners eine ganze Seite. Bemerkens-
werth für den Einfluß des griechischen Romans sind die genauen Personal¬
beschreibungen der handelnden Personen, welche das ganze Buch durch¬
ziehen. Die Geschichte des Alterthums kennt Malaka nur durch einen homöo¬
pathisch verdünnten Auszug aus Julius Africanus; von der römischen Republik
weiß er buchstäblich nichts. Charakteristisch für seine correcte Gesinnung gegen
das Kaiserreich ist seine Darstellung der älteren Kaiscrgeschichte, in der vielleicht
aus Pädagogischen Rücksichten die Loyalität in ein förmliches System gebracht
'se: fast alle Kaiser sterben eines natürlichen Todes, wobei denn begreiflicher¬
weise die Diagnose am häusigsten auf Blutsturz oder Bräune lautet. Während



") Euagrius war nämlich ein Busenfreund des Patriarchen Gregor von Antioctuen, der
der vom Kaiser Tiberius gegen die syrischen Heiden eingeleiteten Untcrjuchung als heim-
I'aller Heide stark cvmpromulirt war und seine N, chlgläulugkeit durch einen Bcivns cihältcte,
dessen Bündigkeit den mit Lynchjustiz drohenden Antiochencru völlig einleuchtete. Andern oder
vielleicht weniger einleuchten wird: er baute der guten Stadt Antiochien auf seine Kosten
«>n« neue Rennbahn.
Wrenzboten I. 1LLZ. 44
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0353" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/187847"/>
          <p xml:id="ID_1292" prev="#ID_1291"> Merkwürdigste ist, daß diese conventionelle Neutralität ihre Rückwirkung auch<lb/>
auf die Kirchenhistorikcr ausgeübt hat: diesem Einflüsse verdanken wir die in<lb/>
Anbetracht des Zelotismus der Zeit sehr unparteiisch gehaltenen Werke des<lb/>
Sokrates und Sozomenus, .und das noch unparteiischere des Euagrius, bei dem<lb/>
freilich mitunter der Argwohn aufsteigt, ob uns nicht absichtlich die beschämend¬<lb/>
sten Seiten der Geschichte des Christenthums mit äußerlicher Betrübniß und<lb/>
innerlichem Behagen vor die Augen geführt werden*). Theophylaktus Simo-<lb/>
katta schrieb bald nach 610, Euagrius S93; mit jenem hört die politische, mit<lb/>
diesem die kirchliche Geschichtschreibung völlig auf.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1293" next="#ID_1294"> Um dieselbe Zeit aber fängt die byzantinische Chrvnikenliteratur an,<lb/>
deren ältester und culturhistorisch merkwürdigster Repräsentant Joannes Malaka<lb/>
unter Justin dem Zweiten (56S&#x2014;578) schrieb, fast in jeder Beziehung das<lb/>
gerade Gegenstück der Schule des Eunapius. Diese Weltchronikcn haben sich<lb/>
aus Stadrchroniken entwickelt und ihren mehr noch spießbürgerlichen als<lb/>
mönchischen Charakter nie verläugnet; der volksthümliche Ursprung und die<lb/>
Bestimmung für das Volk ist schon in der barbarischen, an lateinischen und<lb/>
syrischen Worten und Redewendungen der Septuaginta überreichen Sprache<lb/>
deutlich ausgedrückt, die aber dem Wortgeklingel der höheren Geschichtschreibung<lb/>
gegenüber etwas Erquickendes hat. Von historischer Kritik ist bei Malaka und<lb/>
seinen Nachfolgern keine Spur: mit gleicher Gläubigkeit' wird Wichtiges und<lb/>
Unwichtiges reproducirt, mit Vorliebe Theuerungen, Seuchen. Kometen und<lb/>
alle möglichen Portenta, Erbeben, Bauten, die Angelegenheiten der Rennbahn.<lb/>
Während Malaka über viele der wichtigsten Ereignisse der Regierung Justinians,<lb/>
die er selbst mit erlebte, schweigt oder confuse Notizen gibt, widmet er dem<lb/>
gelehrigen Hunde eines fahrenden Jtalieners eine ganze Seite. Bemerkens-<lb/>
werth für den Einfluß des griechischen Romans sind die genauen Personal¬<lb/>
beschreibungen der handelnden Personen, welche das ganze Buch durch¬<lb/>
ziehen. Die Geschichte des Alterthums kennt Malaka nur durch einen homöo¬<lb/>
pathisch verdünnten Auszug aus Julius Africanus; von der römischen Republik<lb/>
weiß er buchstäblich nichts. Charakteristisch für seine correcte Gesinnung gegen<lb/>
das Kaiserreich ist seine Darstellung der älteren Kaiscrgeschichte, in der vielleicht<lb/>
aus Pädagogischen Rücksichten die Loyalität in ein förmliches System gebracht<lb/>
'se: fast alle Kaiser sterben eines natürlichen Todes, wobei denn begreiflicher¬<lb/>
weise die Diagnose am häusigsten auf Blutsturz oder Bräune lautet. Während</p><lb/>
          <note xml:id="FID_34" place="foot"> ") Euagrius war nämlich ein Busenfreund des Patriarchen Gregor von Antioctuen, der<lb/>
der vom Kaiser Tiberius gegen die syrischen Heiden eingeleiteten Untcrjuchung als heim-<lb/>
I'aller Heide stark cvmpromulirt war und seine N, chlgläulugkeit durch einen Bcivns cihältcte,<lb/>
dessen Bündigkeit den mit Lynchjustiz drohenden Antiochencru völlig einleuchtete. Andern oder<lb/>
vielleicht weniger einleuchten wird: er baute der guten Stadt Antiochien auf seine Kosten<lb/>
«&gt;n« neue Rennbahn.</note><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Wrenzboten I. 1LLZ. 44</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0353] Merkwürdigste ist, daß diese conventionelle Neutralität ihre Rückwirkung auch auf die Kirchenhistorikcr ausgeübt hat: diesem Einflüsse verdanken wir die in Anbetracht des Zelotismus der Zeit sehr unparteiisch gehaltenen Werke des Sokrates und Sozomenus, .und das noch unparteiischere des Euagrius, bei dem freilich mitunter der Argwohn aufsteigt, ob uns nicht absichtlich die beschämend¬ sten Seiten der Geschichte des Christenthums mit äußerlicher Betrübniß und innerlichem Behagen vor die Augen geführt werden*). Theophylaktus Simo- katta schrieb bald nach 610, Euagrius S93; mit jenem hört die politische, mit diesem die kirchliche Geschichtschreibung völlig auf. Um dieselbe Zeit aber fängt die byzantinische Chrvnikenliteratur an, deren ältester und culturhistorisch merkwürdigster Repräsentant Joannes Malaka unter Justin dem Zweiten (56S—578) schrieb, fast in jeder Beziehung das gerade Gegenstück der Schule des Eunapius. Diese Weltchronikcn haben sich aus Stadrchroniken entwickelt und ihren mehr noch spießbürgerlichen als mönchischen Charakter nie verläugnet; der volksthümliche Ursprung und die Bestimmung für das Volk ist schon in der barbarischen, an lateinischen und syrischen Worten und Redewendungen der Septuaginta überreichen Sprache deutlich ausgedrückt, die aber dem Wortgeklingel der höheren Geschichtschreibung gegenüber etwas Erquickendes hat. Von historischer Kritik ist bei Malaka und seinen Nachfolgern keine Spur: mit gleicher Gläubigkeit' wird Wichtiges und Unwichtiges reproducirt, mit Vorliebe Theuerungen, Seuchen. Kometen und alle möglichen Portenta, Erbeben, Bauten, die Angelegenheiten der Rennbahn. Während Malaka über viele der wichtigsten Ereignisse der Regierung Justinians, die er selbst mit erlebte, schweigt oder confuse Notizen gibt, widmet er dem gelehrigen Hunde eines fahrenden Jtalieners eine ganze Seite. Bemerkens- werth für den Einfluß des griechischen Romans sind die genauen Personal¬ beschreibungen der handelnden Personen, welche das ganze Buch durch¬ ziehen. Die Geschichte des Alterthums kennt Malaka nur durch einen homöo¬ pathisch verdünnten Auszug aus Julius Africanus; von der römischen Republik weiß er buchstäblich nichts. Charakteristisch für seine correcte Gesinnung gegen das Kaiserreich ist seine Darstellung der älteren Kaiscrgeschichte, in der vielleicht aus Pädagogischen Rücksichten die Loyalität in ein förmliches System gebracht 'se: fast alle Kaiser sterben eines natürlichen Todes, wobei denn begreiflicher¬ weise die Diagnose am häusigsten auf Blutsturz oder Bräune lautet. Während ") Euagrius war nämlich ein Busenfreund des Patriarchen Gregor von Antioctuen, der der vom Kaiser Tiberius gegen die syrischen Heiden eingeleiteten Untcrjuchung als heim- I'aller Heide stark cvmpromulirt war und seine N, chlgläulugkeit durch einen Bcivns cihältcte, dessen Bündigkeit den mit Lynchjustiz drohenden Antiochencru völlig einleuchtete. Andern oder vielleicht weniger einleuchten wird: er baute der guten Stadt Antiochien auf seine Kosten «>n« neue Rennbahn. Wrenzboten I. 1LLZ. 44

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/353
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/353>, abgerufen am 30.05.2024.