Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

von der Spitze des Kreuzes abgebrochne Brustbild des Erlösers in Glorie
ist jetzt unmittelbar über dem hervorragenden Heiligenschein des unten Ge¬
kreuzigten angebracht. Auf den Armen des Kreuzes finden sich wie gewöhnlich
die Figuren der Jungfrau und der Evangelist Johannes, aber die kleinen
Seitenbilder weichen in Gruppirung und Wahl des Gegenstandes von denen
in Lucca ab.

Auf einem andern Crucifix, derselben Zeit angehörend, und erst kürzlich
in Sepolcro in Pisa entdeckt, ist der Erlöser noch aufrechter als gewöhnlich
und in guter Proportion dargestellt; aber an der Spitze fehlt der Christus in
Glorie und statt des Evangelisten und der Jungfrau finden sich hier zwei
kleinere Bilder vom Abendmahl und der Fußwaschung, und am Fuße des Kreuzes
statt S. Peter und der Magd das Herniedersteigen des h. Geistes. Das Crucifix
in der Kapelle Maggiore des Campo Santo in Pisa, von späterem Datum,
zeigt in der mageren Gestalt des Heilands eine geschmeidige Elasticität, das ge¬
neigte Haupt und die geschlossenen Augen deuten schon die Entwickelung einer
späteren religiösen Auffassung an. Aber der Begriff von Schmerz wird noch durch
keine Uebertreibung im Ausdruck, sondern durch ruhige Traurigkeit gegeben.
Haltung und Ausdruck des Gekreuzigten lassen den Schluß ziehen, daß dies
Werk zwischen 11S0 und 1190 entstanden ist.

In einem noch späteren Crucifix in S. Pietro in VinculiS, jetzt San
Pierino. von Pisa sieht man dann deutlich wie die neue Auffassung, den Hei¬
land schmerzvoll darzustellen, an Ausdehnung gewann. Die Füße des rolos-
salen Christus sind zwar dort noch von einander entfernt an das Kreuz
genagelt, aber der Leib und die Hüften hängen nach außen hin über, und
geben so die Idee des Todes mit einer gewissen Realität. Die Augenbrauen
sind schräger, die Augen geschlossen , die Stirn ist mit Runzeln bedeckt, und
gibt dem Gesicht ein finstres Aussehen, gemischt mit dem Ausdruck drückender
Sorge und vorzeitigen Alters. Anatomie scheint von dem Künstler vergeblich
studirt zu sein, und die Ausführung zeugt durch den dunklen Umriß und gelb¬
liche Farbe von dem allmäligen Untergange der Kunst.

Diese traurigen Darstellungen von der Göttlichkeit des Erlösers bilden
den Uebergang zu dem entarteten Stil Giunta Pisanos, dessen Werke
in Gemeinschaft mit denen von Margaritone die unterste Stufe einnehmen, zu
der die Kunst in Italien jemals herabsank.

Erst Giotto, dem Erfinder neuer Typen in der florentinischen Schule,
war es im vierzehnten Jahrhundert vorbehalten, der Gestalt des Heilands wieder
Würde und Erhabenheit zu verleihen.

Die von seiner Hand herrührende Kreuzigung in dem südlichen Querschiff
der Basilika von Asstsi bildet mit dem weder verdrehten noch entstellten Ant¬
litz des Heilands, durch das Fehlen der blutenden Wunden unter dem Domen-
*


8

von der Spitze des Kreuzes abgebrochne Brustbild des Erlösers in Glorie
ist jetzt unmittelbar über dem hervorragenden Heiligenschein des unten Ge¬
kreuzigten angebracht. Auf den Armen des Kreuzes finden sich wie gewöhnlich
die Figuren der Jungfrau und der Evangelist Johannes, aber die kleinen
Seitenbilder weichen in Gruppirung und Wahl des Gegenstandes von denen
in Lucca ab.

Auf einem andern Crucifix, derselben Zeit angehörend, und erst kürzlich
in Sepolcro in Pisa entdeckt, ist der Erlöser noch aufrechter als gewöhnlich
und in guter Proportion dargestellt; aber an der Spitze fehlt der Christus in
Glorie und statt des Evangelisten und der Jungfrau finden sich hier zwei
kleinere Bilder vom Abendmahl und der Fußwaschung, und am Fuße des Kreuzes
statt S. Peter und der Magd das Herniedersteigen des h. Geistes. Das Crucifix
in der Kapelle Maggiore des Campo Santo in Pisa, von späterem Datum,
zeigt in der mageren Gestalt des Heilands eine geschmeidige Elasticität, das ge¬
neigte Haupt und die geschlossenen Augen deuten schon die Entwickelung einer
späteren religiösen Auffassung an. Aber der Begriff von Schmerz wird noch durch
keine Uebertreibung im Ausdruck, sondern durch ruhige Traurigkeit gegeben.
Haltung und Ausdruck des Gekreuzigten lassen den Schluß ziehen, daß dies
Werk zwischen 11S0 und 1190 entstanden ist.

In einem noch späteren Crucifix in S. Pietro in VinculiS, jetzt San
Pierino. von Pisa sieht man dann deutlich wie die neue Auffassung, den Hei¬
land schmerzvoll darzustellen, an Ausdehnung gewann. Die Füße des rolos-
salen Christus sind zwar dort noch von einander entfernt an das Kreuz
genagelt, aber der Leib und die Hüften hängen nach außen hin über, und
geben so die Idee des Todes mit einer gewissen Realität. Die Augenbrauen
sind schräger, die Augen geschlossen , die Stirn ist mit Runzeln bedeckt, und
gibt dem Gesicht ein finstres Aussehen, gemischt mit dem Ausdruck drückender
Sorge und vorzeitigen Alters. Anatomie scheint von dem Künstler vergeblich
studirt zu sein, und die Ausführung zeugt durch den dunklen Umriß und gelb¬
liche Farbe von dem allmäligen Untergange der Kunst.

Diese traurigen Darstellungen von der Göttlichkeit des Erlösers bilden
den Uebergang zu dem entarteten Stil Giunta Pisanos, dessen Werke
in Gemeinschaft mit denen von Margaritone die unterste Stufe einnehmen, zu
der die Kunst in Italien jemals herabsank.

Erst Giotto, dem Erfinder neuer Typen in der florentinischen Schule,
war es im vierzehnten Jahrhundert vorbehalten, der Gestalt des Heilands wieder
Würde und Erhabenheit zu verleihen.

Die von seiner Hand herrührende Kreuzigung in dem südlichen Querschiff
der Basilika von Asstsi bildet mit dem weder verdrehten noch entstellten Ant¬
litz des Heilands, durch das Fehlen der blutenden Wunden unter dem Domen-
*


8
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0067" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/187561"/>
          <p xml:id="ID_192" prev="#ID_191"> von der Spitze des Kreuzes abgebrochne Brustbild des Erlösers in Glorie<lb/>
ist jetzt unmittelbar über dem hervorragenden Heiligenschein des unten Ge¬<lb/>
kreuzigten angebracht. Auf den Armen des Kreuzes finden sich wie gewöhnlich<lb/>
die Figuren der Jungfrau und der Evangelist Johannes, aber die kleinen<lb/>
Seitenbilder weichen in Gruppirung und Wahl des Gegenstandes von denen<lb/>
in Lucca ab.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_193"> Auf einem andern Crucifix, derselben Zeit angehörend, und erst kürzlich<lb/>
in Sepolcro in Pisa entdeckt, ist der Erlöser noch aufrechter als gewöhnlich<lb/>
und in guter Proportion dargestellt; aber an der Spitze fehlt der Christus in<lb/>
Glorie und statt des Evangelisten und der Jungfrau finden sich hier zwei<lb/>
kleinere Bilder vom Abendmahl und der Fußwaschung, und am Fuße des Kreuzes<lb/>
statt S. Peter und der Magd das Herniedersteigen des h. Geistes. Das Crucifix<lb/>
in der Kapelle Maggiore des Campo Santo in Pisa, von späterem Datum,<lb/>
zeigt in der mageren Gestalt des Heilands eine geschmeidige Elasticität, das ge¬<lb/>
neigte Haupt und die geschlossenen Augen deuten schon die Entwickelung einer<lb/>
späteren religiösen Auffassung an. Aber der Begriff von Schmerz wird noch durch<lb/>
keine Uebertreibung im Ausdruck, sondern durch ruhige Traurigkeit gegeben.<lb/>
Haltung und Ausdruck des Gekreuzigten lassen den Schluß ziehen, daß dies<lb/>
Werk zwischen 11S0 und 1190 entstanden ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_194"> In einem noch späteren Crucifix in S. Pietro in VinculiS, jetzt San<lb/>
Pierino. von Pisa sieht man dann deutlich wie die neue Auffassung, den Hei¬<lb/>
land schmerzvoll darzustellen, an Ausdehnung gewann. Die Füße des rolos-<lb/>
salen Christus sind zwar dort noch von einander entfernt an das Kreuz<lb/>
genagelt, aber der Leib und die Hüften hängen nach außen hin über, und<lb/>
geben so die Idee des Todes mit einer gewissen Realität. Die Augenbrauen<lb/>
sind schräger, die Augen geschlossen , die Stirn ist mit Runzeln bedeckt, und<lb/>
gibt dem Gesicht ein finstres Aussehen, gemischt mit dem Ausdruck drückender<lb/>
Sorge und vorzeitigen Alters. Anatomie scheint von dem Künstler vergeblich<lb/>
studirt zu sein, und die Ausführung zeugt durch den dunklen Umriß und gelb¬<lb/>
liche Farbe von dem allmäligen Untergange der Kunst.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_195"> Diese traurigen Darstellungen von der Göttlichkeit des Erlösers bilden<lb/>
den Uebergang zu dem entarteten Stil Giunta Pisanos, dessen Werke<lb/>
in Gemeinschaft mit denen von Margaritone die unterste Stufe einnehmen, zu<lb/>
der die Kunst in Italien jemals herabsank.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_196"> Erst Giotto, dem Erfinder neuer Typen in der florentinischen Schule,<lb/>
war es im vierzehnten Jahrhundert vorbehalten, der Gestalt des Heilands wieder<lb/>
Würde und Erhabenheit zu verleihen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_197" next="#ID_198"> Die von seiner Hand herrührende Kreuzigung in dem südlichen Querschiff<lb/>
der Basilika von Asstsi bildet mit dem weder verdrehten noch entstellten Ant¬<lb/>
litz des Heilands, durch das Fehlen der blutenden Wunden unter dem Domen-<lb/>
*</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 8</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0067] von der Spitze des Kreuzes abgebrochne Brustbild des Erlösers in Glorie ist jetzt unmittelbar über dem hervorragenden Heiligenschein des unten Ge¬ kreuzigten angebracht. Auf den Armen des Kreuzes finden sich wie gewöhnlich die Figuren der Jungfrau und der Evangelist Johannes, aber die kleinen Seitenbilder weichen in Gruppirung und Wahl des Gegenstandes von denen in Lucca ab. Auf einem andern Crucifix, derselben Zeit angehörend, und erst kürzlich in Sepolcro in Pisa entdeckt, ist der Erlöser noch aufrechter als gewöhnlich und in guter Proportion dargestellt; aber an der Spitze fehlt der Christus in Glorie und statt des Evangelisten und der Jungfrau finden sich hier zwei kleinere Bilder vom Abendmahl und der Fußwaschung, und am Fuße des Kreuzes statt S. Peter und der Magd das Herniedersteigen des h. Geistes. Das Crucifix in der Kapelle Maggiore des Campo Santo in Pisa, von späterem Datum, zeigt in der mageren Gestalt des Heilands eine geschmeidige Elasticität, das ge¬ neigte Haupt und die geschlossenen Augen deuten schon die Entwickelung einer späteren religiösen Auffassung an. Aber der Begriff von Schmerz wird noch durch keine Uebertreibung im Ausdruck, sondern durch ruhige Traurigkeit gegeben. Haltung und Ausdruck des Gekreuzigten lassen den Schluß ziehen, daß dies Werk zwischen 11S0 und 1190 entstanden ist. In einem noch späteren Crucifix in S. Pietro in VinculiS, jetzt San Pierino. von Pisa sieht man dann deutlich wie die neue Auffassung, den Hei¬ land schmerzvoll darzustellen, an Ausdehnung gewann. Die Füße des rolos- salen Christus sind zwar dort noch von einander entfernt an das Kreuz genagelt, aber der Leib und die Hüften hängen nach außen hin über, und geben so die Idee des Todes mit einer gewissen Realität. Die Augenbrauen sind schräger, die Augen geschlossen , die Stirn ist mit Runzeln bedeckt, und gibt dem Gesicht ein finstres Aussehen, gemischt mit dem Ausdruck drückender Sorge und vorzeitigen Alters. Anatomie scheint von dem Künstler vergeblich studirt zu sein, und die Ausführung zeugt durch den dunklen Umriß und gelb¬ liche Farbe von dem allmäligen Untergange der Kunst. Diese traurigen Darstellungen von der Göttlichkeit des Erlösers bilden den Uebergang zu dem entarteten Stil Giunta Pisanos, dessen Werke in Gemeinschaft mit denen von Margaritone die unterste Stufe einnehmen, zu der die Kunst in Italien jemals herabsank. Erst Giotto, dem Erfinder neuer Typen in der florentinischen Schule, war es im vierzehnten Jahrhundert vorbehalten, der Gestalt des Heilands wieder Würde und Erhabenheit zu verleihen. Die von seiner Hand herrührende Kreuzigung in dem südlichen Querschiff der Basilika von Asstsi bildet mit dem weder verdrehten noch entstellten Ant¬ litz des Heilands, durch das Fehlen der blutenden Wunden unter dem Domen- * 8

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/67
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 22, 1863, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341797_187493/67>, abgerufen am 15.05.2024.