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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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lichkeit erbaut, und das Absolute der christlichen Religion eben darin gefunden,
daß sie vermöge ihrer Idee der wesentlichen Einheit des Menschlichen und Gött¬
lichen in den unendlichen Proceß der weltgeschichtlichen Entwickelung einzugehen
vermag, womit zugleich gegeben ist, daß sie nie durch eine spätere Religions¬
bildung verdrängt und abgelöst werden kann.

Sobald nun aber das Christenthum unter den Gesichtspunkt eines geschicht¬
lichen Processes gestellt wird, springt die Bedeutung seines Anfangs, des Lebens
Jesu und der christlichen Urzeit von selbst in die Augen. Die Auffassung des
Anfangs muß auf die Auffassung des ganzen geschichtlichen Verlaufs von prin¬
cipiellen Einfluß sein. Ist die Erscheinung Jesu ein Wunder im absoluten
Sinn, wie die Kirche will, ein unmittelbarer Offenbarungs- und Schöpfungsact
Gottes, der die natürliche Weltordnung durchbricht, so wird auch die Betrachtung
der ferneren Geschichte der neuen Religion nicht über einen dualistischen Wider¬
streit hinauskommen. Ihre Substanz ist etwas über die irdische Entwickelung
Hinausgehobenes, und aus allen Verunreinigungen, die ja doch nur die äußere
Schale betreffen können, geht sie siegreich als die sich selbstgleiche hervor. Um¬
gekehrt, je reiner die geschichtliche Ansicht für die folgenden Zeiten des Christen¬
thums festgehalten wird, um so näher liegt das Interesse, den Anfang desselben
gleichfalls seines Wundercharattcrs zu entkleiden und in seine geschichtlichen
Momente zu zerlegen. Das was der kirchlichen Auffassung als die ursprüngliche
Substanz, als unmittelbar geoffenbartes Wesen des christlichen Glaubens erschienen
war, ist nunmehr selbst ein geschichtlich gewordenes, ein Resultat geschichtlicher
Factoren, nach denselben Gesetzen entstanden wie alles andere Geschehene. Der
alte Streit kehrt also jetzt wieder, aber concentrirt auf einen bestimmten Punkt,
der zugleich für das Ganze von entscheidender Wichtigkeit ist.

Noch ein anderer Grund ist es, der jetzt das theologische Interesse vorzugs¬
weise auf das Urchristenthum richten mußte. So lange die Kirche sich in ihrer
festgeschlossenen Macht behauptete und die Andersgläubigen als Ketzer von sich
ausschloß -- ein Standpunkt, den die altlutherische Kirche mit der des Mittel-
alters theilte, -- wußte sie sich als die unmittelbare Erbin des von Gott durch
Jesus mitgetheilten Offenbarungsinhalt. Eben die Voraussetzung der wesent¬
lichen Uebereinstimmung mit diesem Inhalt drängte jedes Interesse, diesen zu
untersuchen, zurück gegen das Interesse ihn festzuhalten. Es galt das Kleinod
zu wahren, nicht es auf die Probe zu legen, denn nur teuflische Bosheit konnte
seine Echtheit bezweifeln. Anders wurde es. als die Macht und das Selbst¬
bewußtsein der Kirche durch den Andrang freidenkerischer Meinungen, die mit
richtigem Instinkt ihre Angriffe vorzugsweise auf die schriftliche Ueberlieferung
richteten, nach allen Seiten hin erschüttert wurde. Jetzt handelte es sich nicht
mehr um Ketzer und Sekten, die durch kirchlichen Machtspruch ausgeschieden
werden konnten, sondern um Richtungen, welche verwegen in die Kirche selbst


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lichkeit erbaut, und das Absolute der christlichen Religion eben darin gefunden,
daß sie vermöge ihrer Idee der wesentlichen Einheit des Menschlichen und Gött¬
lichen in den unendlichen Proceß der weltgeschichtlichen Entwickelung einzugehen
vermag, womit zugleich gegeben ist, daß sie nie durch eine spätere Religions¬
bildung verdrängt und abgelöst werden kann.

Sobald nun aber das Christenthum unter den Gesichtspunkt eines geschicht¬
lichen Processes gestellt wird, springt die Bedeutung seines Anfangs, des Lebens
Jesu und der christlichen Urzeit von selbst in die Augen. Die Auffassung des
Anfangs muß auf die Auffassung des ganzen geschichtlichen Verlaufs von prin¬
cipiellen Einfluß sein. Ist die Erscheinung Jesu ein Wunder im absoluten
Sinn, wie die Kirche will, ein unmittelbarer Offenbarungs- und Schöpfungsact
Gottes, der die natürliche Weltordnung durchbricht, so wird auch die Betrachtung
der ferneren Geschichte der neuen Religion nicht über einen dualistischen Wider¬
streit hinauskommen. Ihre Substanz ist etwas über die irdische Entwickelung
Hinausgehobenes, und aus allen Verunreinigungen, die ja doch nur die äußere
Schale betreffen können, geht sie siegreich als die sich selbstgleiche hervor. Um¬
gekehrt, je reiner die geschichtliche Ansicht für die folgenden Zeiten des Christen¬
thums festgehalten wird, um so näher liegt das Interesse, den Anfang desselben
gleichfalls seines Wundercharattcrs zu entkleiden und in seine geschichtlichen
Momente zu zerlegen. Das was der kirchlichen Auffassung als die ursprüngliche
Substanz, als unmittelbar geoffenbartes Wesen des christlichen Glaubens erschienen
war, ist nunmehr selbst ein geschichtlich gewordenes, ein Resultat geschichtlicher
Factoren, nach denselben Gesetzen entstanden wie alles andere Geschehene. Der
alte Streit kehrt also jetzt wieder, aber concentrirt auf einen bestimmten Punkt,
der zugleich für das Ganze von entscheidender Wichtigkeit ist.

Noch ein anderer Grund ist es, der jetzt das theologische Interesse vorzugs¬
weise auf das Urchristenthum richten mußte. So lange die Kirche sich in ihrer
festgeschlossenen Macht behauptete und die Andersgläubigen als Ketzer von sich
ausschloß — ein Standpunkt, den die altlutherische Kirche mit der des Mittel-
alters theilte, — wußte sie sich als die unmittelbare Erbin des von Gott durch
Jesus mitgetheilten Offenbarungsinhalt. Eben die Voraussetzung der wesent¬
lichen Uebereinstimmung mit diesem Inhalt drängte jedes Interesse, diesen zu
untersuchen, zurück gegen das Interesse ihn festzuhalten. Es galt das Kleinod
zu wahren, nicht es auf die Probe zu legen, denn nur teuflische Bosheit konnte
seine Echtheit bezweifeln. Anders wurde es. als die Macht und das Selbst¬
bewußtsein der Kirche durch den Andrang freidenkerischer Meinungen, die mit
richtigem Instinkt ihre Angriffe vorzugsweise auf die schriftliche Ueberlieferung
richteten, nach allen Seiten hin erschüttert wurde. Jetzt handelte es sich nicht
mehr um Ketzer und Sekten, die durch kirchlichen Machtspruch ausgeschieden
werden konnten, sondern um Richtungen, welche verwegen in die Kirche selbst


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/11>, abgerufen am 19.05.2024.