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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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logie. welche in voreiliger Freude die tübinger Schule zu den Todten geworfen
und ihr bereits die Leichenrede gehalten hatte. In bündigster Weise war hier
der Beweis von der Berechtigung und Lebensfähigkeit einer Geschichtsanschauung
geliefert, welche freilich nicht an Namen und Ort, und nicht an einzelne Per¬
sonen gebunden ist. In dem siegreichen Bewußtsein von der Wahrhaftigkeit
und Unerschütterlichkeit seiner wissenschaftlichen Grundsätze konnte Baur in einem
Moment, da die ganze "Schule" nur noch auf seinem ergrauten Haupte zu ruhen
schien, ausrufen: "und doch, wenn es erlaubt ist. das Wort des Apostels hier
anzuwenden, sage auch ich in meinem und meiner Gesinnungsgenossen Namen:
eos "nos",z"7xovrks, Xttt Zöov ^es^to (als Absterbende und siehe, wir leben!) Gelee
dies auch ferner von allen, in welchen der echte Geist der Schule, trotz aller
hemmenden Verhältnisse und beschränkten Vorurtheile, mit welchen fortgehend
zu kämpfen ist. frisch und kräftig fortlebt und, auf welchem Gebiete des Forschens
und Denkens es auch sei. offen und frei sich ausspricht." Wie ein letztes Ver-
mächtniß klingen diese Worte, die der ehrwürdige Gelehrte zwei Jahre vor
seinem Tod niedergeschrieben hat.

Eine frische, freie Luft wehte in den dreißiger Jahren und noch am An¬
fang des folgenden Decenniums an der tübinger Hochschule. Sie durfte sich
damals eines seltenen Zusammentreffens geistvoller, lehrender und lernender
Kräfte rühmen. Unter der Einwirkung einer anregenden Zeitphilosophie, und
geschwellt von dem Hauch der damals überall in Deutschland vorwärts dringen¬
den öffentlichen Meinung entwickelte sich hier ein regsames und fruchtbares
wissenschaftliches Leben, das dann freilich theils unter der steigenden Ungunst,
welche besonders die theologische Freisinnigkeit von oben her zu erfahren hatte,
theils verdrängt durch die in den Vordergrund tretenden politischen Interessen,
sich auf immer beschränktere Kreise zusammenzog. Jene Philosophie war die
hegelsche. Aber die geistreichen, kecken, auch die Form meisterhaft handhabenden
Köpfe, welche in dieser Philosophie gebildet waren, gingen darauf aus, ihr
alles scholastische Formelwesen abzustreifen, ihre lebendigen Gedanken umzusetzen
in eine allgemein verständliche Sprache, sie praktisch zu Verwerthen und auf
die verschiedensten Gebiete des geistigen Lebens anzuwenden. Der Schulstaub
wurde gründlich abgeschüttelt, und je freier man sich Von den Fesseln des
Systems fühlte, um so klarer wurden die Ziele, die man in Wissenschaft und
Kirche, in Kunst und Staat verfolgte. Bei aller Freiheit der Bewegung war
dann dem ganzen Kreis eine Humanität, ein feiner Takt der Bildung eigen,
welche durchaus vor jenen Exccntncitäten und Mißbildungen bewahrte, von
denen anderwärts die linke Seite der hcgelschen Schule nicht frei blieb. In
diesem Sinne wirkten die für das größere Publicum berechneten "Jahrbücher
der Gegenwart", welche A. Schwegler von 1844--1847 leitete, und die vor¬
zugsweise zeitgeschichtlichen und ästhetischen Gegenständen gewidmet waren, erstere


logie. welche in voreiliger Freude die tübinger Schule zu den Todten geworfen
und ihr bereits die Leichenrede gehalten hatte. In bündigster Weise war hier
der Beweis von der Berechtigung und Lebensfähigkeit einer Geschichtsanschauung
geliefert, welche freilich nicht an Namen und Ort, und nicht an einzelne Per¬
sonen gebunden ist. In dem siegreichen Bewußtsein von der Wahrhaftigkeit
und Unerschütterlichkeit seiner wissenschaftlichen Grundsätze konnte Baur in einem
Moment, da die ganze „Schule" nur noch auf seinem ergrauten Haupte zu ruhen
schien, ausrufen: „und doch, wenn es erlaubt ist. das Wort des Apostels hier
anzuwenden, sage auch ich in meinem und meiner Gesinnungsgenossen Namen:
eos «nos»,z«7xovrks, Xttt Zöov ^es^to (als Absterbende und siehe, wir leben!) Gelee
dies auch ferner von allen, in welchen der echte Geist der Schule, trotz aller
hemmenden Verhältnisse und beschränkten Vorurtheile, mit welchen fortgehend
zu kämpfen ist. frisch und kräftig fortlebt und, auf welchem Gebiete des Forschens
und Denkens es auch sei. offen und frei sich ausspricht." Wie ein letztes Ver-
mächtniß klingen diese Worte, die der ehrwürdige Gelehrte zwei Jahre vor
seinem Tod niedergeschrieben hat.

Eine frische, freie Luft wehte in den dreißiger Jahren und noch am An¬
fang des folgenden Decenniums an der tübinger Hochschule. Sie durfte sich
damals eines seltenen Zusammentreffens geistvoller, lehrender und lernender
Kräfte rühmen. Unter der Einwirkung einer anregenden Zeitphilosophie, und
geschwellt von dem Hauch der damals überall in Deutschland vorwärts dringen¬
den öffentlichen Meinung entwickelte sich hier ein regsames und fruchtbares
wissenschaftliches Leben, das dann freilich theils unter der steigenden Ungunst,
welche besonders die theologische Freisinnigkeit von oben her zu erfahren hatte,
theils verdrängt durch die in den Vordergrund tretenden politischen Interessen,
sich auf immer beschränktere Kreise zusammenzog. Jene Philosophie war die
hegelsche. Aber die geistreichen, kecken, auch die Form meisterhaft handhabenden
Köpfe, welche in dieser Philosophie gebildet waren, gingen darauf aus, ihr
alles scholastische Formelwesen abzustreifen, ihre lebendigen Gedanken umzusetzen
in eine allgemein verständliche Sprache, sie praktisch zu Verwerthen und auf
die verschiedensten Gebiete des geistigen Lebens anzuwenden. Der Schulstaub
wurde gründlich abgeschüttelt, und je freier man sich Von den Fesseln des
Systems fühlte, um so klarer wurden die Ziele, die man in Wissenschaft und
Kirche, in Kunst und Staat verfolgte. Bei aller Freiheit der Bewegung war
dann dem ganzen Kreis eine Humanität, ein feiner Takt der Bildung eigen,
welche durchaus vor jenen Exccntncitäten und Mißbildungen bewahrte, von
denen anderwärts die linke Seite der hcgelschen Schule nicht frei blieb. In
diesem Sinne wirkten die für das größere Publicum berechneten „Jahrbücher
der Gegenwart", welche A. Schwegler von 1844—1847 leitete, und die vor¬
zugsweise zeitgeschichtlichen und ästhetischen Gegenständen gewidmet waren, erstere


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/229>, abgerufen am 28.05.2024.