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Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band.

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Johannes. Denn Johannes, der am 14. das Erinnerungsmahl zu halten pflegte,
kann nicht Verfasser eines Evangeliums sein, das Jesus vor seinem Tode gar
kein Passah mehr begehen, sondern am 14. sterben läßt. Wie hätten sich aber,
muß man weiter fragen, die Kleinasiaten auf Johannes berufen können, wenn
damals ein Evangelium unter dessen Namen vorhanden und anerkannt war,
welches die geschichtlichen Voraussetzungen ihres Ritus geradezu ausschließt?
Und welche Waffe hätte umgekehrt die römische Gemeinde an diesem Evangelium
gehabt, dessen Autorität den abendländischen Ritus sanctionirt und die Be¬
rufung der Kleinasiaten auf Johannes zu nickte gemacht hätte? Daß das vierte
Evangelium in diesem Streit noch gar nicht genannt wird, ist der augen¬
scheinlichste Beweis, daß es damals noch nicht vorhanden war. Dagegen ist es
höchst wahrscheinlich, daß eben dieser Pasfahstrcit mit zu den Motiven seiner
Entstehung gehört. Es gab dem Grundsah, daß Jesus selbst als Passahlamm
genau zur Zeit der jüdischen Passahfeier gestorben, und es deshalb unstatthaft
sei. im Christenthum die Grundlage der jüdischen Feier beizubehalten, eine feste
Stütze, eine angebliche apostolische Autorität, und gerade seine Zurückführung
aus den Apostel Johannes, der in Kleinasien besonders hoch verehrt wurde,
mußte dazu dienen, den Widerstand der Kleinasiaten zu brechen, und sie für
den abendländischen Ritus zu gewinnen, in welchem die Loslösung des
Christenthums vom Judenthum seinen bezeichnendsten Ausdruck gefunden hatte.

Dieses Verhältniß zum Passahstreit ist indessen nicht das einzige, welches
das Johannesevangclium als aus den Interessen der zweiten Hälfte des zweiten
Jahrhunderts heraus geschrieben erscheinen läßt. Ueberall bietet es Berührungs¬
punkte mit den dogmatischen Bildungen, mit den kirchlichen Controversen,
welche jene Zeit besonders bewegten. Und zwar ist es eine eigenthümlich cen-
trale Stellung, welche es zu den geistigen Bestrebungen seiner Zeit einnimmt.
Es ist, als ob hier wieder alle die Strahlen zusammenlaufen sollten, welche von
dem Punkte aus, da das christliche Princip sich als ein neues selbständiges zu
erfassen begann, in bunter Fülle und Mannigfaltigkeit nach allen Seiten aus¬
einandergegangen waren. Es ist dasjenige Evangelium, welches alle im damaligen
Zeitbewußtsein vorhandenen Elemente sich aneignet, aber in gereifter Form zu
einer neuen vergeistigter Auffassung des Christenthums zu verschmelzen weiß,
welches die Gegensätze, nach deren Ausgleichung die Kirche bis dahin gerungen,
zu versöhnendster Einheit zusammenschließt und die Entwickelung des christlichen
Bewußtseins auf einen Punkt führt, auf welchem dasselbe, über alle örtliche
und nationale Beschränktheiten hinausgehoben, sich in seiner absoluten Bedeutung
erfaßt. -- Und nun. besinnen wir uns wieder auf den Punkt, von welchem
wir ausgegangen sind. Wir fragten nach den historischen Quellen für das Leben
Jesu. Eine durchgreifende Verschiedenheit hat sich uns zwischen den drei ersten
und dem vierten Evangelium ergeben, wir haben letzteres nach seiner eigen-


Johannes. Denn Johannes, der am 14. das Erinnerungsmahl zu halten pflegte,
kann nicht Verfasser eines Evangeliums sein, das Jesus vor seinem Tode gar
kein Passah mehr begehen, sondern am 14. sterben läßt. Wie hätten sich aber,
muß man weiter fragen, die Kleinasiaten auf Johannes berufen können, wenn
damals ein Evangelium unter dessen Namen vorhanden und anerkannt war,
welches die geschichtlichen Voraussetzungen ihres Ritus geradezu ausschließt?
Und welche Waffe hätte umgekehrt die römische Gemeinde an diesem Evangelium
gehabt, dessen Autorität den abendländischen Ritus sanctionirt und die Be¬
rufung der Kleinasiaten auf Johannes zu nickte gemacht hätte? Daß das vierte
Evangelium in diesem Streit noch gar nicht genannt wird, ist der augen¬
scheinlichste Beweis, daß es damals noch nicht vorhanden war. Dagegen ist es
höchst wahrscheinlich, daß eben dieser Pasfahstrcit mit zu den Motiven seiner
Entstehung gehört. Es gab dem Grundsah, daß Jesus selbst als Passahlamm
genau zur Zeit der jüdischen Passahfeier gestorben, und es deshalb unstatthaft
sei. im Christenthum die Grundlage der jüdischen Feier beizubehalten, eine feste
Stütze, eine angebliche apostolische Autorität, und gerade seine Zurückführung
aus den Apostel Johannes, der in Kleinasien besonders hoch verehrt wurde,
mußte dazu dienen, den Widerstand der Kleinasiaten zu brechen, und sie für
den abendländischen Ritus zu gewinnen, in welchem die Loslösung des
Christenthums vom Judenthum seinen bezeichnendsten Ausdruck gefunden hatte.

Dieses Verhältniß zum Passahstreit ist indessen nicht das einzige, welches
das Johannesevangclium als aus den Interessen der zweiten Hälfte des zweiten
Jahrhunderts heraus geschrieben erscheinen läßt. Ueberall bietet es Berührungs¬
punkte mit den dogmatischen Bildungen, mit den kirchlichen Controversen,
welche jene Zeit besonders bewegten. Und zwar ist es eine eigenthümlich cen-
trale Stellung, welche es zu den geistigen Bestrebungen seiner Zeit einnimmt.
Es ist, als ob hier wieder alle die Strahlen zusammenlaufen sollten, welche von
dem Punkte aus, da das christliche Princip sich als ein neues selbständiges zu
erfassen begann, in bunter Fülle und Mannigfaltigkeit nach allen Seiten aus¬
einandergegangen waren. Es ist dasjenige Evangelium, welches alle im damaligen
Zeitbewußtsein vorhandenen Elemente sich aneignet, aber in gereifter Form zu
einer neuen vergeistigter Auffassung des Christenthums zu verschmelzen weiß,
welches die Gegensätze, nach deren Ausgleichung die Kirche bis dahin gerungen,
zu versöhnendster Einheit zusammenschließt und die Entwickelung des christlichen
Bewußtseins auf einen Punkt führt, auf welchem dasselbe, über alle örtliche
und nationale Beschränktheiten hinausgehoben, sich in seiner absoluten Bedeutung
erfaßt. — Und nun. besinnen wir uns wieder auf den Punkt, von welchem
wir ausgegangen sind. Wir fragten nach den historischen Quellen für das Leben
Jesu. Eine durchgreifende Verschiedenheit hat sich uns zwischen den drei ersten
und dem vierten Evangelium ergeben, wir haben letzteres nach seiner eigen-


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[0397] Johannes. Denn Johannes, der am 14. das Erinnerungsmahl zu halten pflegte, kann nicht Verfasser eines Evangeliums sein, das Jesus vor seinem Tode gar kein Passah mehr begehen, sondern am 14. sterben läßt. Wie hätten sich aber, muß man weiter fragen, die Kleinasiaten auf Johannes berufen können, wenn damals ein Evangelium unter dessen Namen vorhanden und anerkannt war, welches die geschichtlichen Voraussetzungen ihres Ritus geradezu ausschließt? Und welche Waffe hätte umgekehrt die römische Gemeinde an diesem Evangelium gehabt, dessen Autorität den abendländischen Ritus sanctionirt und die Be¬ rufung der Kleinasiaten auf Johannes zu nickte gemacht hätte? Daß das vierte Evangelium in diesem Streit noch gar nicht genannt wird, ist der augen¬ scheinlichste Beweis, daß es damals noch nicht vorhanden war. Dagegen ist es höchst wahrscheinlich, daß eben dieser Pasfahstrcit mit zu den Motiven seiner Entstehung gehört. Es gab dem Grundsah, daß Jesus selbst als Passahlamm genau zur Zeit der jüdischen Passahfeier gestorben, und es deshalb unstatthaft sei. im Christenthum die Grundlage der jüdischen Feier beizubehalten, eine feste Stütze, eine angebliche apostolische Autorität, und gerade seine Zurückführung aus den Apostel Johannes, der in Kleinasien besonders hoch verehrt wurde, mußte dazu dienen, den Widerstand der Kleinasiaten zu brechen, und sie für den abendländischen Ritus zu gewinnen, in welchem die Loslösung des Christenthums vom Judenthum seinen bezeichnendsten Ausdruck gefunden hatte. Dieses Verhältniß zum Passahstreit ist indessen nicht das einzige, welches das Johannesevangclium als aus den Interessen der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts heraus geschrieben erscheinen läßt. Ueberall bietet es Berührungs¬ punkte mit den dogmatischen Bildungen, mit den kirchlichen Controversen, welche jene Zeit besonders bewegten. Und zwar ist es eine eigenthümlich cen- trale Stellung, welche es zu den geistigen Bestrebungen seiner Zeit einnimmt. Es ist, als ob hier wieder alle die Strahlen zusammenlaufen sollten, welche von dem Punkte aus, da das christliche Princip sich als ein neues selbständiges zu erfassen begann, in bunter Fülle und Mannigfaltigkeit nach allen Seiten aus¬ einandergegangen waren. Es ist dasjenige Evangelium, welches alle im damaligen Zeitbewußtsein vorhandenen Elemente sich aneignet, aber in gereifter Form zu einer neuen vergeistigter Auffassung des Christenthums zu verschmelzen weiß, welches die Gegensätze, nach deren Ausgleichung die Kirche bis dahin gerungen, zu versöhnendster Einheit zusammenschließt und die Entwickelung des christlichen Bewußtseins auf einen Punkt führt, auf welchem dasselbe, über alle örtliche und nationale Beschränktheiten hinausgehoben, sich in seiner absoluten Bedeutung erfaßt. — Und nun. besinnen wir uns wieder auf den Punkt, von welchem wir ausgegangen sind. Wir fragten nach den historischen Quellen für das Leben Jesu. Eine durchgreifende Verschiedenheit hat sich uns zwischen den drei ersten und dem vierten Evangelium ergeben, wir haben letzteres nach seiner eigen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 23, 1864, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341799_188560/397>, abgerufen am 19.05.2024.