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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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heischen Staatsexamina in Preuße" den wissenschaftlichen Geist der Rechts¬
praktiker zu wenig angeregt, und gereift hätten.

In das erste und dritte dieser maßgebenden Verhältnisse hat die Hand der
Negierung kürzlich theilweise reformirend und tief eingegriffen.

Bisher galt es unter den Studirenden aller Facultciten als zuerst beneidens-,
doch bald mehr bcdauernswcrthes Privileg der preußischen Juristen, in folgen¬
der Weise das Triennium zu absolviren. Bei der Immatriculation empfing der
Jurist mit den Gesetzen der Hochschule ein Verzeichniß der nach Semestern ver¬
theilten siebzehn juristischen Zwangsvorlcsungcn, welche er angenommen und nach
dem schriftlichen Zeugniß des Docirenden wenigstens "fleißig" besucht haben mußte,
wenn er zum ersten, dem Auscultatorexamen zugelassen werden wollte. Er nahm die
vorgezeichneten Collegia an. ging hin und wieder oder gar nicht hinein, sammelte
seine Testate bei den die Nutzlosigkeit, ja Ungehörigkeit solcher Schülerzeugnisse meist
erkennenden, auch an sich gutmüthigen Professoren, woraus er sich und Andere
mit Befriedigung überzeugte, daß er die Vorlesungen "fleißig" besucht, und jlebte
im Uebrigen als "flotter Bursche" in der "Kneipe", auf "Fechtboden und Men¬
sur" oder, falls er bemittelt, auf "Spritzen" (Reisen) bis zum Ende des fünften
Semesters. Zwei und ein halbes Jahr hatte er sich "Studirens halber" auf
deutschen Hochschulen aufgehalten und wußte häufig vom Rechte nichts, gar nichts,
höchstens verzweifelt weniges, was durch sein abgerissenes Detail nur verwirrte.
"Nun muß ich anfangen zu arbeiten". Das heißt, er ging im sechsten oder
siebenten oder achten Semester ins Nepelitvrium. Hier wurde ihm mit vielen
College" für schweres Geld das Nothwendigste der verschiedenen Nechtsdiscipli-
nen völlig schülerhaft und unwissenschaftlich "eingepaukt". Mit dem eingelern¬
ten, ganz unverdauten Wissen schritt er voll Angst ins erste Examen, brachte
mit Glück und Geschick seine auf die meist sehr lange Zeit fungirenden Exami¬
natoren berechneten Antworten, welche er eingelernt hatte, an, schrieb Einiges,
das "othtürflig genügte, über die aufgegebenen kleinen Themata und auszu¬
legenden Stellen des eorxus iuris civilis oder canoiriei unter nicht allzustrenger
Clausur zus.numen und "war durch". Examinatoren waren unter dem Pra"
sidtum eines der Präsidenten desselben Gerichts zwei meist ältere Räthe der
sämmtlich als Examincttionsorte bestimmten Appcllationsgerichte, welche durch ihr
Alter oder ih"e praktische Berufsthätigkeit meist verhindert wurden, den selbst
mehijäbrig zurückliegenden Resultaten der nicht speciell preußischrechtlichen Wissen¬
schaft, besonders der des deutschen Rechtes, zu folgen, weshalb es vorkam, daß
die wirklich einmal fleißigen Examinanden mit ihren auf der Hochschule gelern¬
ten neuen Resultaten der Wissenschaft von den Examinatoren Unrecht erhielten,
oder sich unrichtige, nur von den Examinatoren festgehaltene Rechtssätze gegen


heischen Staatsexamina in Preuße» den wissenschaftlichen Geist der Rechts¬
praktiker zu wenig angeregt, und gereift hätten.

In das erste und dritte dieser maßgebenden Verhältnisse hat die Hand der
Negierung kürzlich theilweise reformirend und tief eingegriffen.

Bisher galt es unter den Studirenden aller Facultciten als zuerst beneidens-,
doch bald mehr bcdauernswcrthes Privileg der preußischen Juristen, in folgen¬
der Weise das Triennium zu absolviren. Bei der Immatriculation empfing der
Jurist mit den Gesetzen der Hochschule ein Verzeichniß der nach Semestern ver¬
theilten siebzehn juristischen Zwangsvorlcsungcn, welche er angenommen und nach
dem schriftlichen Zeugniß des Docirenden wenigstens „fleißig" besucht haben mußte,
wenn er zum ersten, dem Auscultatorexamen zugelassen werden wollte. Er nahm die
vorgezeichneten Collegia an. ging hin und wieder oder gar nicht hinein, sammelte
seine Testate bei den die Nutzlosigkeit, ja Ungehörigkeit solcher Schülerzeugnisse meist
erkennenden, auch an sich gutmüthigen Professoren, woraus er sich und Andere
mit Befriedigung überzeugte, daß er die Vorlesungen „fleißig" besucht, und jlebte
im Uebrigen als „flotter Bursche" in der „Kneipe", auf „Fechtboden und Men¬
sur" oder, falls er bemittelt, auf „Spritzen" (Reisen) bis zum Ende des fünften
Semesters. Zwei und ein halbes Jahr hatte er sich „Studirens halber" auf
deutschen Hochschulen aufgehalten und wußte häufig vom Rechte nichts, gar nichts,
höchstens verzweifelt weniges, was durch sein abgerissenes Detail nur verwirrte.
„Nun muß ich anfangen zu arbeiten". Das heißt, er ging im sechsten oder
siebenten oder achten Semester ins Nepelitvrium. Hier wurde ihm mit vielen
College» für schweres Geld das Nothwendigste der verschiedenen Nechtsdiscipli-
nen völlig schülerhaft und unwissenschaftlich „eingepaukt". Mit dem eingelern¬
ten, ganz unverdauten Wissen schritt er voll Angst ins erste Examen, brachte
mit Glück und Geschick seine auf die meist sehr lange Zeit fungirenden Exami¬
natoren berechneten Antworten, welche er eingelernt hatte, an, schrieb Einiges,
das »othtürflig genügte, über die aufgegebenen kleinen Themata und auszu¬
legenden Stellen des eorxus iuris civilis oder canoiriei unter nicht allzustrenger
Clausur zus.numen und „war durch". Examinatoren waren unter dem Pra»
sidtum eines der Präsidenten desselben Gerichts zwei meist ältere Räthe der
sämmtlich als Examincttionsorte bestimmten Appcllationsgerichte, welche durch ihr
Alter oder ih»e praktische Berufsthätigkeit meist verhindert wurden, den selbst
mehijäbrig zurückliegenden Resultaten der nicht speciell preußischrechtlichen Wissen¬
schaft, besonders der des deutschen Rechtes, zu folgen, weshalb es vorkam, daß
die wirklich einmal fleißigen Examinanden mit ihren auf der Hochschule gelern¬
ten neuen Resultaten der Wissenschaft von den Examinatoren Unrecht erhielten,
oder sich unrichtige, nur von den Examinatoren festgehaltene Rechtssätze gegen


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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/218>, abgerufen am 16.05.2024.