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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band.

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oberungst'riege, hier eine internationale Stätte zum friedlichen Austausch und
gegenseitigen Verständniß zweier Culturvölker geschaffen hat. Das Elsaß
hat mit Erfolg die Vermittlerrolle zwischen Deutschland und Frankreich über¬
nommen, es hat seine civilisatorische Mission, und vielleicht darf sich eines Tages
auch die Mutter nicht schämen, von dem fremdgewordenen Sohne zu lernen.

Der Volksunterricht bildet noch ein schwarzes Capitel im heutigen Frank¬
reich. In keinem Lande zeigt das Budget für die Armee und das Budget für
den Unterricht ein so schreiendes Mißverhältniß. Der Uebelstand ist längst ge¬
fühlt. Kein Minister, der nicht alsbald die Nothwendigkeit eingesehen hätte,
ihm abzuhelfen; auch Duruy, der bis jetzt so geschäftig im Lycealwesen herum-
organisirte, hat diese Nothwendigkeit anerkannt. Bei der Unzulänglichkeit der
verfügbaren Staatsmittel sind Regierung und Private längst darauf verfallen,
durch indirecte Mittel die Volksbildung zu heben. Im Jahre 1860 bildete sich
in Paris eine "Wohlthätigkcitsgesellschast zur Gründung von Gemeindebiblio¬
theken". Zunächst sollten an 3000 Gemeinden, dann je nach den Mitteln an
alle Gemeinden unentgeldlich Bibliotheken vertheilt werden. Die Gesellschaft
genoß den Schutz der Negierung, Prinz Louis Napoleon, Präsident der Re¬
publik figurirte als Protector. Der Päpstliche Nuntius, Bischöfe und Prälaten,
viele angesehene Herren und Damen zu Paris standen an der Spitze; ein
Rundschreiben des Ministers Baroche vom 31. Mai 18S0 an die Präfecten
forderte alle Beamten auf. thätige Mithilfe zu leisten. Aber trotz des großen
Anlaufes wollte die Sache nicht in Gang kommen; mehrmals wieder auf¬
genommen hatte sie, zum Theil wegen innerer Mängel der Organisation keinen
Erfolg. Nur das eine Verdienst kam ihr zu, daß das Wort Gemeindebiblio¬
theken einmal ausgesprochen war und fortan auf der Tagesordnung des Mi¬
nisteriums blieb. Allein zehn Jahre später sah sich die Regierung zu dem Be¬
kenntniß genöthigt, daß sie die Ausführung für unmöglich halte. Ein Rund¬
schreiben des Ministers Roulano vom 31. Mai 1860 sprach sich dahin aus:
"Die arbeitende Bevölkerung mit einem Schatz interessanter und nützlicher Werke
auszustatten, ist ein Bedürfniß, das sich täglich fühlbarer macht. Eine aus¬
gedehnte Organisation der Gemeindebibliotheken würde diesem Zweck entsprechen,
aber sie bietet Schwierigkeiten dar, welche nur eine allseitige Mitwirkung des
guten Willens und der Opfer vollständig überwinden könnte." An diesen
Schwierigkeiten verzweifelte der Minister, er resignirte sich auf die Gründung
von Schulbibliothekcn, die natürlich dem allgemeinen Zwecke nicht genügen
konnten. Aber Neuland hatte ein wahres Wort ausgesprochen. Es kam auf
die "allseitige Mitwirkung des guten Willens und der Opfer" an. Die Frage
war nur: wie diese zu erzielen? Dadurch konnte sie nicht erreicht werden, daß
man die Gemeinden mit einem Almosen beschenkte, wie es jene Gesellschaft
versucht hatte. Auch nicht dadurch, daß die Regierung ihre Präfecten in Be-


oberungst'riege, hier eine internationale Stätte zum friedlichen Austausch und
gegenseitigen Verständniß zweier Culturvölker geschaffen hat. Das Elsaß
hat mit Erfolg die Vermittlerrolle zwischen Deutschland und Frankreich über¬
nommen, es hat seine civilisatorische Mission, und vielleicht darf sich eines Tages
auch die Mutter nicht schämen, von dem fremdgewordenen Sohne zu lernen.

Der Volksunterricht bildet noch ein schwarzes Capitel im heutigen Frank¬
reich. In keinem Lande zeigt das Budget für die Armee und das Budget für
den Unterricht ein so schreiendes Mißverhältniß. Der Uebelstand ist längst ge¬
fühlt. Kein Minister, der nicht alsbald die Nothwendigkeit eingesehen hätte,
ihm abzuhelfen; auch Duruy, der bis jetzt so geschäftig im Lycealwesen herum-
organisirte, hat diese Nothwendigkeit anerkannt. Bei der Unzulänglichkeit der
verfügbaren Staatsmittel sind Regierung und Private längst darauf verfallen,
durch indirecte Mittel die Volksbildung zu heben. Im Jahre 1860 bildete sich
in Paris eine „Wohlthätigkcitsgesellschast zur Gründung von Gemeindebiblio¬
theken". Zunächst sollten an 3000 Gemeinden, dann je nach den Mitteln an
alle Gemeinden unentgeldlich Bibliotheken vertheilt werden. Die Gesellschaft
genoß den Schutz der Negierung, Prinz Louis Napoleon, Präsident der Re¬
publik figurirte als Protector. Der Päpstliche Nuntius, Bischöfe und Prälaten,
viele angesehene Herren und Damen zu Paris standen an der Spitze; ein
Rundschreiben des Ministers Baroche vom 31. Mai 18S0 an die Präfecten
forderte alle Beamten auf. thätige Mithilfe zu leisten. Aber trotz des großen
Anlaufes wollte die Sache nicht in Gang kommen; mehrmals wieder auf¬
genommen hatte sie, zum Theil wegen innerer Mängel der Organisation keinen
Erfolg. Nur das eine Verdienst kam ihr zu, daß das Wort Gemeindebiblio¬
theken einmal ausgesprochen war und fortan auf der Tagesordnung des Mi¬
nisteriums blieb. Allein zehn Jahre später sah sich die Regierung zu dem Be¬
kenntniß genöthigt, daß sie die Ausführung für unmöglich halte. Ein Rund¬
schreiben des Ministers Roulano vom 31. Mai 1860 sprach sich dahin aus:
„Die arbeitende Bevölkerung mit einem Schatz interessanter und nützlicher Werke
auszustatten, ist ein Bedürfniß, das sich täglich fühlbarer macht. Eine aus¬
gedehnte Organisation der Gemeindebibliotheken würde diesem Zweck entsprechen,
aber sie bietet Schwierigkeiten dar, welche nur eine allseitige Mitwirkung des
guten Willens und der Opfer vollständig überwinden könnte." An diesen
Schwierigkeiten verzweifelte der Minister, er resignirte sich auf die Gründung
von Schulbibliothekcn, die natürlich dem allgemeinen Zwecke nicht genügen
konnten. Aber Neuland hatte ein wahres Wort ausgesprochen. Es kam auf
die „allseitige Mitwirkung des guten Willens und der Opfer" an. Die Frage
war nur: wie diese zu erzielen? Dadurch konnte sie nicht erreicht werden, daß
man die Gemeinden mit einem Almosen beschenkte, wie es jene Gesellschaft
versucht hatte. Auch nicht dadurch, daß die Regierung ihre Präfecten in Be-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282240/30>, abgerufen am 16.05.2024.