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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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aber der Geschmack der Zeitgenossen ein anderer; besonders die 72 philosophischen
Fragen und Antworten, die einen großen Theil des Buches einnehmen, waren
ganz im Schulgeschmack der rhetorisircndcn Philosophen; für uns sind sie sehr
ermüdend.

Historische Grundlagen hat das Buch fast gar nicht. Die Ueber¬
setzung war unter den ersten Ptolemäern von alexandrinischen Juden gemacht;
diese Könige waren große Bücher- und Litcraturfrcunde; daraus combinirte
der Verfasser die Grundzüge der Erzählung. Daß der jüdische Oberpriester die
Uebersetzer bestimmen mußte, gab ihr die religiöse Weihe. Die Zahl der 72 Ael-
testen (je 6 aus jedem der 12 heiligen Stämme) war schon im Pcntateuch ge¬
heiligt (2 Mose 24); auch der hohe Rath in Jerusalem zählte so viele Mitglieder;
d.te Zahl war also besonders passend zur Erhöhung der Heiligkeit dieser Ueber-
setzung. Die Fiction, den Bericht nicht von einem Juden, sondern von
einem vornehmen Heiden ausgehn zu lassen, mußte die Wirkung vergrößern.
Auf den Namen des Aristeas kam der Verfasser vielleicht durch den Umstand,
daß wirklich ein Aristeas über die Juden geschrieben hat, wie wir aus Ale¬
xander Polyhistor (um 60 vor Chr.) wissen; dieser Schriftsteller muß aber be¬
deutend später, als Ptolemäus Philadelphias gelebt haben.

Ob das Buch trotz einer ziemlich guten Sprache auf die Heiden Eindruck
gemacht hat, ist sehr zu bezweifeln. Aber bei den Juden kam es bald zu
Ansehn, denn die Nationaleitelkeit fühlte sich dadurch sehr geschmeichelt.
Philo (um 40 nach Chr. Geb.) weist darauf hin, und wahrscheinlich hat es
schon der Schriftsteller benutzt, der gegen das Ende der Ptolemäerzeit im Namen
des Aristobulus schrieb"). Alles deutet darauf, daß das Aristeasbuch noch
unter den Ptolemäern, aber in der letzten Periode derselben geschrieben ist.

Bei den Juden und bald darauf bei den Christen fand das Buch allgemein
Glauben. Daß die Uebersetzung des Pentateuchs im dritten Jahrhundert (ob
unter Philadelphias oder etwas später, ist ungewiß) von alexandrinischen Juden
zur Befriedigung des religiösen Bedürfnisses im Dialect der jüdischen Masse mit
Beibehaltung der orientalischen Farbe des Originals verfaßt war, wurde ver¬
gessen. Man hielt es für ehrenvoller, daß das übrigens höchst ehrenwerthe
Werk") der literarischen Liebhaberei eines Gelehrten und eines Königs seinen
Ursprung verdankt. Nach und nach knüpften sich an das Aristeasbuch noch
weitere Ausschmückungen. Schon Philo hielt die Uebersetzer für inspirirt;
aus dieser Anschauung entwickelte sich dann die Sage, jeder der 72 Uebersetzer
hätte für sich besonders gearbeitet, und durch göttliche Einwirkung wären die
Uebersetzungen Wort für Wort gleichlautend ausgefallen. Die Alexandriner




") Die Unechtheit dieser Schrift ist natürlich sehr wahrscheinlich.
") Es ist die älteste Ueberhebung eines Buches, von der wir etwas wissen.

aber der Geschmack der Zeitgenossen ein anderer; besonders die 72 philosophischen
Fragen und Antworten, die einen großen Theil des Buches einnehmen, waren
ganz im Schulgeschmack der rhetorisircndcn Philosophen; für uns sind sie sehr
ermüdend.

Historische Grundlagen hat das Buch fast gar nicht. Die Ueber¬
setzung war unter den ersten Ptolemäern von alexandrinischen Juden gemacht;
diese Könige waren große Bücher- und Litcraturfrcunde; daraus combinirte
der Verfasser die Grundzüge der Erzählung. Daß der jüdische Oberpriester die
Uebersetzer bestimmen mußte, gab ihr die religiöse Weihe. Die Zahl der 72 Ael-
testen (je 6 aus jedem der 12 heiligen Stämme) war schon im Pcntateuch ge¬
heiligt (2 Mose 24); auch der hohe Rath in Jerusalem zählte so viele Mitglieder;
d.te Zahl war also besonders passend zur Erhöhung der Heiligkeit dieser Ueber-
setzung. Die Fiction, den Bericht nicht von einem Juden, sondern von
einem vornehmen Heiden ausgehn zu lassen, mußte die Wirkung vergrößern.
Auf den Namen des Aristeas kam der Verfasser vielleicht durch den Umstand,
daß wirklich ein Aristeas über die Juden geschrieben hat, wie wir aus Ale¬
xander Polyhistor (um 60 vor Chr.) wissen; dieser Schriftsteller muß aber be¬
deutend später, als Ptolemäus Philadelphias gelebt haben.

Ob das Buch trotz einer ziemlich guten Sprache auf die Heiden Eindruck
gemacht hat, ist sehr zu bezweifeln. Aber bei den Juden kam es bald zu
Ansehn, denn die Nationaleitelkeit fühlte sich dadurch sehr geschmeichelt.
Philo (um 40 nach Chr. Geb.) weist darauf hin, und wahrscheinlich hat es
schon der Schriftsteller benutzt, der gegen das Ende der Ptolemäerzeit im Namen
des Aristobulus schrieb"). Alles deutet darauf, daß das Aristeasbuch noch
unter den Ptolemäern, aber in der letzten Periode derselben geschrieben ist.

Bei den Juden und bald darauf bei den Christen fand das Buch allgemein
Glauben. Daß die Uebersetzung des Pentateuchs im dritten Jahrhundert (ob
unter Philadelphias oder etwas später, ist ungewiß) von alexandrinischen Juden
zur Befriedigung des religiösen Bedürfnisses im Dialect der jüdischen Masse mit
Beibehaltung der orientalischen Farbe des Originals verfaßt war, wurde ver¬
gessen. Man hielt es für ehrenvoller, daß das übrigens höchst ehrenwerthe
Werk") der literarischen Liebhaberei eines Gelehrten und eines Königs seinen
Ursprung verdankt. Nach und nach knüpften sich an das Aristeasbuch noch
weitere Ausschmückungen. Schon Philo hielt die Uebersetzer für inspirirt;
aus dieser Anschauung entwickelte sich dann die Sage, jeder der 72 Uebersetzer
hätte für sich besonders gearbeitet, und durch göttliche Einwirkung wären die
Uebersetzungen Wort für Wort gleichlautend ausgefallen. Die Alexandriner




") Die Unechtheit dieser Schrift ist natürlich sehr wahrscheinlich.
") Es ist die älteste Ueberhebung eines Buches, von der wir etwas wissen.
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[0145] aber der Geschmack der Zeitgenossen ein anderer; besonders die 72 philosophischen Fragen und Antworten, die einen großen Theil des Buches einnehmen, waren ganz im Schulgeschmack der rhetorisircndcn Philosophen; für uns sind sie sehr ermüdend. Historische Grundlagen hat das Buch fast gar nicht. Die Ueber¬ setzung war unter den ersten Ptolemäern von alexandrinischen Juden gemacht; diese Könige waren große Bücher- und Litcraturfrcunde; daraus combinirte der Verfasser die Grundzüge der Erzählung. Daß der jüdische Oberpriester die Uebersetzer bestimmen mußte, gab ihr die religiöse Weihe. Die Zahl der 72 Ael- testen (je 6 aus jedem der 12 heiligen Stämme) war schon im Pcntateuch ge¬ heiligt (2 Mose 24); auch der hohe Rath in Jerusalem zählte so viele Mitglieder; d.te Zahl war also besonders passend zur Erhöhung der Heiligkeit dieser Ueber- setzung. Die Fiction, den Bericht nicht von einem Juden, sondern von einem vornehmen Heiden ausgehn zu lassen, mußte die Wirkung vergrößern. Auf den Namen des Aristeas kam der Verfasser vielleicht durch den Umstand, daß wirklich ein Aristeas über die Juden geschrieben hat, wie wir aus Ale¬ xander Polyhistor (um 60 vor Chr.) wissen; dieser Schriftsteller muß aber be¬ deutend später, als Ptolemäus Philadelphias gelebt haben. Ob das Buch trotz einer ziemlich guten Sprache auf die Heiden Eindruck gemacht hat, ist sehr zu bezweifeln. Aber bei den Juden kam es bald zu Ansehn, denn die Nationaleitelkeit fühlte sich dadurch sehr geschmeichelt. Philo (um 40 nach Chr. Geb.) weist darauf hin, und wahrscheinlich hat es schon der Schriftsteller benutzt, der gegen das Ende der Ptolemäerzeit im Namen des Aristobulus schrieb"). Alles deutet darauf, daß das Aristeasbuch noch unter den Ptolemäern, aber in der letzten Periode derselben geschrieben ist. Bei den Juden und bald darauf bei den Christen fand das Buch allgemein Glauben. Daß die Uebersetzung des Pentateuchs im dritten Jahrhundert (ob unter Philadelphias oder etwas später, ist ungewiß) von alexandrinischen Juden zur Befriedigung des religiösen Bedürfnisses im Dialect der jüdischen Masse mit Beibehaltung der orientalischen Farbe des Originals verfaßt war, wurde ver¬ gessen. Man hielt es für ehrenvoller, daß das übrigens höchst ehrenwerthe Werk") der literarischen Liebhaberei eines Gelehrten und eines Königs seinen Ursprung verdankt. Nach und nach knüpften sich an das Aristeasbuch noch weitere Ausschmückungen. Schon Philo hielt die Uebersetzer für inspirirt; aus dieser Anschauung entwickelte sich dann die Sage, jeder der 72 Uebersetzer hätte für sich besonders gearbeitet, und durch göttliche Einwirkung wären die Uebersetzungen Wort für Wort gleichlautend ausgefallen. Die Alexandriner ") Die Unechtheit dieser Schrift ist natürlich sehr wahrscheinlich. ") Es ist die älteste Ueberhebung eines Buches, von der wir etwas wissen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/145>, abgerufen am 17.06.2024.