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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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Gemachtes und Unwahres anhängt. Er sieht nach dieser Seite aus, wie ein
recht harmloser Mann der Schreibstube, dem zum deutschen Gelehrten allerdings
die philologische und historische Bildung fehlt. Summa, es ist kein Buch,
welkes geistvoll anregt, oder durch sichere Gründlichkeit befriedigt, es ist ein
wenig zu breit angelegt, ohne hervorragendes Talent der Schilderung, es hat
in der Regel den belehrenden Ton. die mürrische und seichte Moral einer ge¬
wöhnlichen Jugendschrift, und erhebt doch wieder den Anspruch, ein Werk
mit selbständiger Forschung zu sein.

Dies Urtheil, welches sich nur aus dem Werke selbst ableitete, wäre nicht
unwahr, und doch würde es nach keiner Richtung die volle Wahrheit enthalten;
es würde in einigen Punkten unbillig sein, in anderen gar nicht hervorheben,
was am meisten an dem neuen Biographen Cäsars befremdet.

Grade dies Buch beweist in ausgezeichneter Weise, wie wenig ein Urtheil
über ein geschriebenes Werk möglich ist, wenn man nicht das ganze Leben des
Verfassers, so weit es der Oeffentlichkeit angehört, in das Urtheil hineinzieht.
Wären die Gedichte "Maas für Maas" und "Wie es euch gefällt" nicht von
Shakespeare geschrieben, sie würden heut nur von wenigen Literarhistorikern
beachtet sein. Die "Stella" Goethes, der "Fiesko" Schillers wären als un¬
schöne Dichterwerke vergessen, wenn wir nicht auch in ihnen die Seelen der
großen Dichter mit warmem Interesse zu erkennen gelernt hätten. Wäre auf
der andern Seite die preußische Geschichte des Herrn von Ranke durch einen
sonst unbekannten Mann verfaßt, wir würden sie als die flüchtige Leistung
eines immerhin beachtungswerthen Talentes gelten lassen, während sie jetzt als
eine Arbeit verurtheilt wird, in welcher die Schwächen des bedeutenden Historikers
sich am auffälligsten zeigen. Werth und Unwerth der einzelnen Leistungen wird
gesteigert durch die Bedeutung, welche der Verfasser auf das Leben seiner Zeit
und späterer Geschlechter ausübt. Ist sein Wesen ein wohlthuendes Moment
unserer Bildung geworden, so tragen wir die Liebe und Verehrung, welche wir
ihm schulden, mit Recht auch auf solche Leistungen über, in denen wir eine edle
Kraft nur unvollkommen wiederfinden, haben wir uns gegen gemeinschädliche
Richtungen seines Lebens zu wehren, so fällt der Vorwurf, mit welchem wir
seine Seele betrachten, schwer auf jede einzelne Leistung derselben, in welcher wir das
Mangelhafte seiner Organisation besonders lebhaft empfinden. Ohne diese Art
von Liebe und Haß ist keine wahrhafte Kritik möglich.

Der Verfasser des vorliegenden Werkes, jetzt Kaiser von Frankreich, hat
das Schicksal gehabt, seit seiner Jugend das Gemüth der Mitlebenden zu be-
schäftigen, Millionen haben bereits ihre Stellung zu seinem Leben ge¬
nommen. Er muß sich gefallen lassen, daß ihre Auffassung seiner eigenen ge¬
schichtlichen Persönlichkeit auch das Urtheil über sein Werk beeinflußt. Allerdings
nicht das Urtheil über den Werth, welchen seine Untersuchungen vielleicht für die


Gemachtes und Unwahres anhängt. Er sieht nach dieser Seite aus, wie ein
recht harmloser Mann der Schreibstube, dem zum deutschen Gelehrten allerdings
die philologische und historische Bildung fehlt. Summa, es ist kein Buch,
welkes geistvoll anregt, oder durch sichere Gründlichkeit befriedigt, es ist ein
wenig zu breit angelegt, ohne hervorragendes Talent der Schilderung, es hat
in der Regel den belehrenden Ton. die mürrische und seichte Moral einer ge¬
wöhnlichen Jugendschrift, und erhebt doch wieder den Anspruch, ein Werk
mit selbständiger Forschung zu sein.

Dies Urtheil, welches sich nur aus dem Werke selbst ableitete, wäre nicht
unwahr, und doch würde es nach keiner Richtung die volle Wahrheit enthalten;
es würde in einigen Punkten unbillig sein, in anderen gar nicht hervorheben,
was am meisten an dem neuen Biographen Cäsars befremdet.

Grade dies Buch beweist in ausgezeichneter Weise, wie wenig ein Urtheil
über ein geschriebenes Werk möglich ist, wenn man nicht das ganze Leben des
Verfassers, so weit es der Oeffentlichkeit angehört, in das Urtheil hineinzieht.
Wären die Gedichte „Maas für Maas" und „Wie es euch gefällt" nicht von
Shakespeare geschrieben, sie würden heut nur von wenigen Literarhistorikern
beachtet sein. Die „Stella" Goethes, der „Fiesko" Schillers wären als un¬
schöne Dichterwerke vergessen, wenn wir nicht auch in ihnen die Seelen der
großen Dichter mit warmem Interesse zu erkennen gelernt hätten. Wäre auf
der andern Seite die preußische Geschichte des Herrn von Ranke durch einen
sonst unbekannten Mann verfaßt, wir würden sie als die flüchtige Leistung
eines immerhin beachtungswerthen Talentes gelten lassen, während sie jetzt als
eine Arbeit verurtheilt wird, in welcher die Schwächen des bedeutenden Historikers
sich am auffälligsten zeigen. Werth und Unwerth der einzelnen Leistungen wird
gesteigert durch die Bedeutung, welche der Verfasser auf das Leben seiner Zeit
und späterer Geschlechter ausübt. Ist sein Wesen ein wohlthuendes Moment
unserer Bildung geworden, so tragen wir die Liebe und Verehrung, welche wir
ihm schulden, mit Recht auch auf solche Leistungen über, in denen wir eine edle
Kraft nur unvollkommen wiederfinden, haben wir uns gegen gemeinschädliche
Richtungen seines Lebens zu wehren, so fällt der Vorwurf, mit welchem wir
seine Seele betrachten, schwer auf jede einzelne Leistung derselben, in welcher wir das
Mangelhafte seiner Organisation besonders lebhaft empfinden. Ohne diese Art
von Liebe und Haß ist keine wahrhafte Kritik möglich.

Der Verfasser des vorliegenden Werkes, jetzt Kaiser von Frankreich, hat
das Schicksal gehabt, seit seiner Jugend das Gemüth der Mitlebenden zu be-
schäftigen, Millionen haben bereits ihre Stellung zu seinem Leben ge¬
nommen. Er muß sich gefallen lassen, daß ihre Auffassung seiner eigenen ge¬
schichtlichen Persönlichkeit auch das Urtheil über sein Werk beeinflußt. Allerdings
nicht das Urtheil über den Werth, welchen seine Untersuchungen vielleicht für die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/218>, abgerufen am 17.06.2024.