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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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untere nicht zurück, ladet vielmehr an?. Und hier wird ein zweites gothisches
Motiv wirksam, die Kragsteine und Kraghölzer. welche die ausladende Etage
zu stützen haben; sie geben, wie die Gesimsbalken und Balkenköpfe, überhaupt
alle sichtbaren Holztheile, zu den anmuthigsten Bildnereien Anlaß. Am reichsten
sind diese Auskragungen behandelt, wo sie den Erker zu tragen dienen. Fenster
und Thüren zeigen nicht den gnaden Sturz, letztere auch den Rundbogen, ver¬
meiden aber in gutem Verständniß den Spitzbogen, der den Neueren für alles
Andere aufkommen muß. Fenster- und Thürgewände haben Maß- und Laub¬
werk in freiesten Formen, und beides ist. ganz in gothischer Weise, aus der
Abfasung herausgearbeitet. Dem Ganzen ist durch das außerordentlich hohe
Dach, welches wieder von Thürmchen durchbrochen ist, der Charakter freien
Emporstrebens gegeben. So tritt das Haus mit trotziger Stirn, unbekümmert
um den Nachbar, tüchtiges Selbstbewußtsein und einen über das nackte Bedürfniß
hinausgehenden Sinn verkündend, in die Straße, und wie ein Wachtthürmchen
ragt der Erker, das stille, abgeschlossene Innere des Hauses mit der Oeffentlich-
keit der Straße vermittelnd, keck hinaus. Wie stark erinnert das Alles an jenen
kühnen selbstgewisser Bürgersinn, an jenen Trieb des Selfgovernments, den das
Zeitalter der Staatsraison mit allen Erkern, Eckigkeiten und Hervorragungen
nach seinem Lineal weggeputzt hat.

In politischer wie in religiöser Beziehung hat ein jähes Zerreißen aller
Zusammenhänge im sechzehnten Jahrhundert stattgefunden, der ungeheure Krieg
des folgenden sorgte dafür, daß ein Wiederfinden der Fäden einstweilen un¬
möglich wurde. Deuten wir die Bewegungen unserer Zeit in ihrem Grunde
richtig, so strebt das Bürgerthum, welches damals schnöde hinabgestoßen wurde,
und mit dessen Sinken eine politische Bedeutung unserer Nation einstweilen
unmöglich wurde, strebt wieder empor und will die ihm gebührende Be¬
deutung wieder gewinnen.

Sollte jener alte bürgerliche Stil nicht wieder Anklang unter uns finden?
Ein Stil, der obenein noch nicht zur vollen Entfaltung gelangte, vielmehr in
seiner Blüthe gestört wurde? Der wie eine unerfüllt gelassene Aufgabe zu
uns redet? Dieser Stil, wenigstens, ist ganz unser eigen und aufs deutlichste
spricht er den Grundcharakter deutschen Wesens, wie er unter allen Einwirkungen
fremder Cultureinflüsse unbewußt sich erhalten, in seinen wichtigsten Momenten
aus. Deutlich redet er von einer Zeit, da dem Bürger die persönliche Unab¬
hängigkeit, die Eigenart der Existenz, das unantastbare Recht des Hauses alles
galt, so viel galt, daß die Allgemeinheit, das öffentliche Wesen, darüber zu
Grunde ging. Uns dünkt, daß jetzt, wo offenkundig der Staat im Begriff
siebt, das Recht individuellen Daseins wieder aus seiner Omnipotenz zu ent¬
lassen und das Gleichgewicht zwischen den beiden constituirenden Mächten der
W. Roßmann. Gesellschaft zu finden, dieser Stil wohl verstanden würde.




untere nicht zurück, ladet vielmehr an?. Und hier wird ein zweites gothisches
Motiv wirksam, die Kragsteine und Kraghölzer. welche die ausladende Etage
zu stützen haben; sie geben, wie die Gesimsbalken und Balkenköpfe, überhaupt
alle sichtbaren Holztheile, zu den anmuthigsten Bildnereien Anlaß. Am reichsten
sind diese Auskragungen behandelt, wo sie den Erker zu tragen dienen. Fenster
und Thüren zeigen nicht den gnaden Sturz, letztere auch den Rundbogen, ver¬
meiden aber in gutem Verständniß den Spitzbogen, der den Neueren für alles
Andere aufkommen muß. Fenster- und Thürgewände haben Maß- und Laub¬
werk in freiesten Formen, und beides ist. ganz in gothischer Weise, aus der
Abfasung herausgearbeitet. Dem Ganzen ist durch das außerordentlich hohe
Dach, welches wieder von Thürmchen durchbrochen ist, der Charakter freien
Emporstrebens gegeben. So tritt das Haus mit trotziger Stirn, unbekümmert
um den Nachbar, tüchtiges Selbstbewußtsein und einen über das nackte Bedürfniß
hinausgehenden Sinn verkündend, in die Straße, und wie ein Wachtthürmchen
ragt der Erker, das stille, abgeschlossene Innere des Hauses mit der Oeffentlich-
keit der Straße vermittelnd, keck hinaus. Wie stark erinnert das Alles an jenen
kühnen selbstgewisser Bürgersinn, an jenen Trieb des Selfgovernments, den das
Zeitalter der Staatsraison mit allen Erkern, Eckigkeiten und Hervorragungen
nach seinem Lineal weggeputzt hat.

In politischer wie in religiöser Beziehung hat ein jähes Zerreißen aller
Zusammenhänge im sechzehnten Jahrhundert stattgefunden, der ungeheure Krieg
des folgenden sorgte dafür, daß ein Wiederfinden der Fäden einstweilen un¬
möglich wurde. Deuten wir die Bewegungen unserer Zeit in ihrem Grunde
richtig, so strebt das Bürgerthum, welches damals schnöde hinabgestoßen wurde,
und mit dessen Sinken eine politische Bedeutung unserer Nation einstweilen
unmöglich wurde, strebt wieder empor und will die ihm gebührende Be¬
deutung wieder gewinnen.

Sollte jener alte bürgerliche Stil nicht wieder Anklang unter uns finden?
Ein Stil, der obenein noch nicht zur vollen Entfaltung gelangte, vielmehr in
seiner Blüthe gestört wurde? Der wie eine unerfüllt gelassene Aufgabe zu
uns redet? Dieser Stil, wenigstens, ist ganz unser eigen und aufs deutlichste
spricht er den Grundcharakter deutschen Wesens, wie er unter allen Einwirkungen
fremder Cultureinflüsse unbewußt sich erhalten, in seinen wichtigsten Momenten
aus. Deutlich redet er von einer Zeit, da dem Bürger die persönliche Unab¬
hängigkeit, die Eigenart der Existenz, das unantastbare Recht des Hauses alles
galt, so viel galt, daß die Allgemeinheit, das öffentliche Wesen, darüber zu
Grunde ging. Uns dünkt, daß jetzt, wo offenkundig der Staat im Begriff
siebt, das Recht individuellen Daseins wieder aus seiner Omnipotenz zu ent¬
lassen und das Gleichgewicht zwischen den beiden constituirenden Mächten der
W. Roßmann. Gesellschaft zu finden, dieser Stil wohl verstanden würde.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/414>, abgerufen am 17.06.2024.