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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band.

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Jeder Augenblick Verzug verminderte diese Möglichkeit. Aber Friedrich August
zog vor, sich erst mit seinen gewöhnlichen Berathern, den "alten Getreuen, die
ihn auf den Abweg gebracht hatten", zu benehmen.

Ein Theil der in Leipzig stehenden Polen besann sich, daß sie keine Franzosen
seien, und daß ihr Gebieter eigentlich der Großherzog von Warschau, also
Friedrich August sei. Ihr General Dombrowski schickte zu ihm und ließ ihm
erklären, daß er und seine Leute jeden seiner Befehle aufs pünktlichste voll¬
ziehen würden. Sie vermehrten aber damit nur die Verlegenheit im thomäschen
Hause. "Er habe ihnen nie einen Befehl ertheilt," lautete die Antwort des Königs,
"sie möchten auch jetzt die von Napoleon erhaltenen Jnstructionen befolgen."

Mittlerweile war bei Kaiser Alexander der sächsische Oberst Ryssel der
Jüngere erschienen, der aus freien Stücken, jedoch mit Vorwissen des Cabinets-
ministers Grafen Einsiedel den Versuch einer Vermittelung für seinen König
übernommen hatte. Ryssel soll in französischer Sprache Alexander angeredet
haben: sein König habe ihn beauftragt, zu eröffnen, daß Leipzig den ver¬
bündeten Truppen ohne Schwertstreich übergeben werden würde, wenn diese
den französischen Truppen nur vier Stunden zur Räumung der Stadt zuge¬
standen; falls dieser Vorschlag nicht berücksichtigt werden sollte, würden die
Franzosen die Stadt zu deren Verderben bis auf den letzten Blutstropfen ver¬
theidigen. Alexander soll ruhig zugehört, dann aber nach vorwurfsvollen Be¬
merkungen über das Betragen des Königs von Sachsen, dessen Worten zu
glauben, dessen Vorschläge anzunehmen er keine Veranlassung mehr haben könne,
geäußert haben: nicht einmal eine Minute gewähre er. "Ich habe Ihnen
nun alles gesagt; Sie können zurückkehren."

Indeß nahm man noch einmal Rücksicht, indem Alexander aus seinem
Gefolge Toll und Preußens König aus dem seinigen Natzmer an Friedrich
August sandten, um auf Ryssels Botschaft zu antworten: "Von Unterhandlungen
mit dem König von Sachsen könne nicht mehr die Rede sein, nachdem er alle
frühern Anträge zurückgewiesen habe. Die sächsischen Truppen jedoch wolle
man nicht feindlich behandeln, wenn sie binnen einer halben Stunde ihre Ge¬
wehre in Pyramiden zusammengestellt hätten, und die Stadt werde man schonen,
wenn der Feind sie unverzüglich räume." Als Toll und Natzmer in des Königs
Wohnung gelangten, erregte ihr Erscheinen sichtbare Verwirrung. "Seine
Majestät," hieß es, "sind nicht zu sprechen." Sie traten entschieden auf, es
sei hier keine Zeit zu verlieren. Darauf kam der König "aus dem Keller her¬
vor, in Gala, bleich". Nach ihrem Vordringen antwortete er: "seine sächsischen
Truppen könne er nicht aus dem Gefecht zurückziehen; denn er habe sie dem
Kaiser Napoleon, seinem hohen Alliirten, übergeben, von diesem und dessen
Marschällen, nicht von ihm würden sie befehligt; hinsichtlich der Leipzig be¬
treffenden Maßregeln verweise er die Herren an den Herzog von Padua (Arrighi),


Jeder Augenblick Verzug verminderte diese Möglichkeit. Aber Friedrich August
zog vor, sich erst mit seinen gewöhnlichen Berathern, den „alten Getreuen, die
ihn auf den Abweg gebracht hatten", zu benehmen.

Ein Theil der in Leipzig stehenden Polen besann sich, daß sie keine Franzosen
seien, und daß ihr Gebieter eigentlich der Großherzog von Warschau, also
Friedrich August sei. Ihr General Dombrowski schickte zu ihm und ließ ihm
erklären, daß er und seine Leute jeden seiner Befehle aufs pünktlichste voll¬
ziehen würden. Sie vermehrten aber damit nur die Verlegenheit im thomäschen
Hause. „Er habe ihnen nie einen Befehl ertheilt," lautete die Antwort des Königs,
„sie möchten auch jetzt die von Napoleon erhaltenen Jnstructionen befolgen."

Mittlerweile war bei Kaiser Alexander der sächsische Oberst Ryssel der
Jüngere erschienen, der aus freien Stücken, jedoch mit Vorwissen des Cabinets-
ministers Grafen Einsiedel den Versuch einer Vermittelung für seinen König
übernommen hatte. Ryssel soll in französischer Sprache Alexander angeredet
haben: sein König habe ihn beauftragt, zu eröffnen, daß Leipzig den ver¬
bündeten Truppen ohne Schwertstreich übergeben werden würde, wenn diese
den französischen Truppen nur vier Stunden zur Räumung der Stadt zuge¬
standen; falls dieser Vorschlag nicht berücksichtigt werden sollte, würden die
Franzosen die Stadt zu deren Verderben bis auf den letzten Blutstropfen ver¬
theidigen. Alexander soll ruhig zugehört, dann aber nach vorwurfsvollen Be¬
merkungen über das Betragen des Königs von Sachsen, dessen Worten zu
glauben, dessen Vorschläge anzunehmen er keine Veranlassung mehr haben könne,
geäußert haben: nicht einmal eine Minute gewähre er. „Ich habe Ihnen
nun alles gesagt; Sie können zurückkehren."

Indeß nahm man noch einmal Rücksicht, indem Alexander aus seinem
Gefolge Toll und Preußens König aus dem seinigen Natzmer an Friedrich
August sandten, um auf Ryssels Botschaft zu antworten: „Von Unterhandlungen
mit dem König von Sachsen könne nicht mehr die Rede sein, nachdem er alle
frühern Anträge zurückgewiesen habe. Die sächsischen Truppen jedoch wolle
man nicht feindlich behandeln, wenn sie binnen einer halben Stunde ihre Ge¬
wehre in Pyramiden zusammengestellt hätten, und die Stadt werde man schonen,
wenn der Feind sie unverzüglich räume." Als Toll und Natzmer in des Königs
Wohnung gelangten, erregte ihr Erscheinen sichtbare Verwirrung. „Seine
Majestät," hieß es, „sind nicht zu sprechen." Sie traten entschieden auf, es
sei hier keine Zeit zu verlieren. Darauf kam der König „aus dem Keller her¬
vor, in Gala, bleich". Nach ihrem Vordringen antwortete er: „seine sächsischen
Truppen könne er nicht aus dem Gefecht zurückziehen; denn er habe sie dem
Kaiser Napoleon, seinem hohen Alliirten, übergeben, von diesem und dessen
Marschällen, nicht von ihm würden sie befehligt; hinsichtlich der Leipzig be¬
treffenden Maßregeln verweise er die Herren an den Herzog von Padua (Arrighi),


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_282796/447>, abgerufen am 17.06.2024.