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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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sehen sind. Aber jeder Vergleich mit ähnlichen Zuständen anderer Länder und .
jede Schätzung menschlicher Leidenschaften geben Grund zur Besorgniß, daß
diese Verjüngung des Staates nicht mehr auf dem Wege ruhigen Compromisses
durch die Klugheit einzelner Führer gelenkt werden wird, sondern daß in irgend¬
einem Augenblick auch die empörte Empfindung der Regierung wie des Volkes
eigenwillig hineinbrechen kann.

Seit der Streit über die Hecrcsorganisation den schneidenden Gegensatz
offenbarte, welcher zwischen Regierenden und Regierten über ihre Berechtigung
im Staate bestand, hat es nicht an wackern Männern gefehlt, welche behaupteten,
daß der Streit nicht zeitgemäß sei, daß die Versöhnung wohl möglich, daß
Nachgiebigkeit der Volksvertreter in dieser einen Frage den ganzen Conflict
vermeiden könne. Preußen sei durch die Verfassung noch kein Verfassungsstaat
geworden, man müsse sich allmälig einleben, alter Gewöhnung der Regierenden
vieles zu Gute halten, bis nach und -nach der Sinn sich ändere, oben Selbst¬
beschränkung, unten sichere Manneskraft allgemeiner werde.

Wer solche Ansicht vertrat, der forderte von dem neuen Factor, der durch
die Verfassung zu gesetzlicher Geltung gekommen war, von Intelligenz und Ge¬
wissen, von Leidenschaft, Neigung und Haß im Volke eine Diplomatie, welche
praktisch unmöglich ist. Ein einzelner Mann, der durch lange Entziehung der
Nahrung geschwächt ist und endlich die ersehnte Kost errungen hat, wird vielleicht
bei großer Gewöhnung, sich selbst zu beherrschen, auch ohne äußern Zwang sich
zu mäßigster Diät entschließen. Ein Volk und die Vertretung eines Volkes
vermag diese Art von Selbstverleugnung nicht zu üben; aus ihm bricht mit
dem Zwange einer Naturgewalt die Stimmung hervor. Es gehört zum Wesen
einer repräsentativen Körperschaft wie der Presse, bei jeder Veranlassung ihre
Gesinnung kund zu geben. Lang geschulte Parteien vermag allerdings in
ruhigen Zeiten der kluge Wille der Führer so zu unterwerfen, daß sie eine
Zeit lang der Uebermacht des Individuums sich fügen, und dann erscheint
wohl bei großen Fragen auch eine parlamentarische Partei als vorsichtiger
und kluger Taktiker; und wieder pflegt eine geknechtete oder an Intelligenz
arme Masse willig geheimen Leitern oder'bewährten Sprechern zu gehorchen.
Aber sobald in einem Staat, welcher Verfassungsformen hat, irgendwie sittliche
Empfindungen: das Rechtsgefühl, das Ehrgefühl, das Selbstgefühl der Wähler
gekränkt werden, ist es mit kluge.in Verhüllen vorbei; was in dem Volke sich
lebendig regt, das dringt auch in der Presse, auf der Tribüne in Worten und
Beschlüssen hervor.

Und wer die Parteien in Preußen näher betrachtet, erkennt leicht, daß sie
keineswegs mit den Parteien eines Staates zu vergleichen sind, welcher seine
Gegensätze auf dem Boden der Verfassung auszukämpfen gewohnt ist. Der
Kampf in Preußen, der im Jahre 1848 begonnen und seitdem nur in kurzen


sehen sind. Aber jeder Vergleich mit ähnlichen Zuständen anderer Länder und .
jede Schätzung menschlicher Leidenschaften geben Grund zur Besorgniß, daß
diese Verjüngung des Staates nicht mehr auf dem Wege ruhigen Compromisses
durch die Klugheit einzelner Führer gelenkt werden wird, sondern daß in irgend¬
einem Augenblick auch die empörte Empfindung der Regierung wie des Volkes
eigenwillig hineinbrechen kann.

Seit der Streit über die Hecrcsorganisation den schneidenden Gegensatz
offenbarte, welcher zwischen Regierenden und Regierten über ihre Berechtigung
im Staate bestand, hat es nicht an wackern Männern gefehlt, welche behaupteten,
daß der Streit nicht zeitgemäß sei, daß die Versöhnung wohl möglich, daß
Nachgiebigkeit der Volksvertreter in dieser einen Frage den ganzen Conflict
vermeiden könne. Preußen sei durch die Verfassung noch kein Verfassungsstaat
geworden, man müsse sich allmälig einleben, alter Gewöhnung der Regierenden
vieles zu Gute halten, bis nach und -nach der Sinn sich ändere, oben Selbst¬
beschränkung, unten sichere Manneskraft allgemeiner werde.

Wer solche Ansicht vertrat, der forderte von dem neuen Factor, der durch
die Verfassung zu gesetzlicher Geltung gekommen war, von Intelligenz und Ge¬
wissen, von Leidenschaft, Neigung und Haß im Volke eine Diplomatie, welche
praktisch unmöglich ist. Ein einzelner Mann, der durch lange Entziehung der
Nahrung geschwächt ist und endlich die ersehnte Kost errungen hat, wird vielleicht
bei großer Gewöhnung, sich selbst zu beherrschen, auch ohne äußern Zwang sich
zu mäßigster Diät entschließen. Ein Volk und die Vertretung eines Volkes
vermag diese Art von Selbstverleugnung nicht zu üben; aus ihm bricht mit
dem Zwange einer Naturgewalt die Stimmung hervor. Es gehört zum Wesen
einer repräsentativen Körperschaft wie der Presse, bei jeder Veranlassung ihre
Gesinnung kund zu geben. Lang geschulte Parteien vermag allerdings in
ruhigen Zeiten der kluge Wille der Führer so zu unterwerfen, daß sie eine
Zeit lang der Uebermacht des Individuums sich fügen, und dann erscheint
wohl bei großen Fragen auch eine parlamentarische Partei als vorsichtiger
und kluger Taktiker; und wieder pflegt eine geknechtete oder an Intelligenz
arme Masse willig geheimen Leitern oder'bewährten Sprechern zu gehorchen.
Aber sobald in einem Staat, welcher Verfassungsformen hat, irgendwie sittliche
Empfindungen: das Rechtsgefühl, das Ehrgefühl, das Selbstgefühl der Wähler
gekränkt werden, ist es mit kluge.in Verhüllen vorbei; was in dem Volke sich
lebendig regt, das dringt auch in der Presse, auf der Tribüne in Worten und
Beschlüssen hervor.

Und wer die Parteien in Preußen näher betrachtet, erkennt leicht, daß sie
keineswegs mit den Parteien eines Staates zu vergleichen sind, welcher seine
Gegensätze auf dem Boden der Verfassung auszukämpfen gewohnt ist. Der
Kampf in Preußen, der im Jahre 1848 begonnen und seitdem nur in kurzen


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[0428] sehen sind. Aber jeder Vergleich mit ähnlichen Zuständen anderer Länder und . jede Schätzung menschlicher Leidenschaften geben Grund zur Besorgniß, daß diese Verjüngung des Staates nicht mehr auf dem Wege ruhigen Compromisses durch die Klugheit einzelner Führer gelenkt werden wird, sondern daß in irgend¬ einem Augenblick auch die empörte Empfindung der Regierung wie des Volkes eigenwillig hineinbrechen kann. Seit der Streit über die Hecrcsorganisation den schneidenden Gegensatz offenbarte, welcher zwischen Regierenden und Regierten über ihre Berechtigung im Staate bestand, hat es nicht an wackern Männern gefehlt, welche behaupteten, daß der Streit nicht zeitgemäß sei, daß die Versöhnung wohl möglich, daß Nachgiebigkeit der Volksvertreter in dieser einen Frage den ganzen Conflict vermeiden könne. Preußen sei durch die Verfassung noch kein Verfassungsstaat geworden, man müsse sich allmälig einleben, alter Gewöhnung der Regierenden vieles zu Gute halten, bis nach und -nach der Sinn sich ändere, oben Selbst¬ beschränkung, unten sichere Manneskraft allgemeiner werde. Wer solche Ansicht vertrat, der forderte von dem neuen Factor, der durch die Verfassung zu gesetzlicher Geltung gekommen war, von Intelligenz und Ge¬ wissen, von Leidenschaft, Neigung und Haß im Volke eine Diplomatie, welche praktisch unmöglich ist. Ein einzelner Mann, der durch lange Entziehung der Nahrung geschwächt ist und endlich die ersehnte Kost errungen hat, wird vielleicht bei großer Gewöhnung, sich selbst zu beherrschen, auch ohne äußern Zwang sich zu mäßigster Diät entschließen. Ein Volk und die Vertretung eines Volkes vermag diese Art von Selbstverleugnung nicht zu üben; aus ihm bricht mit dem Zwange einer Naturgewalt die Stimmung hervor. Es gehört zum Wesen einer repräsentativen Körperschaft wie der Presse, bei jeder Veranlassung ihre Gesinnung kund zu geben. Lang geschulte Parteien vermag allerdings in ruhigen Zeiten der kluge Wille der Führer so zu unterwerfen, daß sie eine Zeit lang der Uebermacht des Individuums sich fügen, und dann erscheint wohl bei großen Fragen auch eine parlamentarische Partei als vorsichtiger und kluger Taktiker; und wieder pflegt eine geknechtete oder an Intelligenz arme Masse willig geheimen Leitern oder'bewährten Sprechern zu gehorchen. Aber sobald in einem Staat, welcher Verfassungsformen hat, irgendwie sittliche Empfindungen: das Rechtsgefühl, das Ehrgefühl, das Selbstgefühl der Wähler gekränkt werden, ist es mit kluge.in Verhüllen vorbei; was in dem Volke sich lebendig regt, das dringt auch in der Presse, auf der Tribüne in Worten und Beschlüssen hervor. Und wer die Parteien in Preußen näher betrachtet, erkennt leicht, daß sie keineswegs mit den Parteien eines Staates zu vergleichen sind, welcher seine Gegensätze auf dem Boden der Verfassung auszukämpfen gewohnt ist. Der Kampf in Preußen, der im Jahre 1848 begonnen und seitdem nur in kurzen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/428>, abgerufen am 16.06.2024.