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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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diesen Grenzgebieten wohl nie einen Hauptsitz gehabt, so war dasselbe in un¬
sern Tagen ganz entschlafen. Die Nestorianer der Berge standen den Kurden
nicht Viel an Wildheit nach, und die Bewohner der Ebene waren ihnen an
Bildung nicht viel überlegen. Das Bewußtsein, Christen zu sein, und ein paar
christliche Formen und Formeln waren alles, was die Laien von dem geistigen
Besitz ihrer Väter gerettet hatten. Die Geistlichen verstanden zwar zum Theil
die biblischen und sonstigen kirchlichen Schriften zu lesen, aber nur wenige hatten
ein ungefähres Verständniß des Gelesenen. Waren doch jene Schriften in einer
längst ausgestorbenen Sprache, der altsyrischen, geschrieben, während man sich
im Leben nur eines ohne alle literansche Einflüsse wild aufgewachsenen Dia"
kaltes bediente, welcher jener wenigstens ebenso fern steht, wie unser jetziges Hoch,
deutsch der Sprache Otfrieds.

Die römische Kirche hatte schon seit alter Zeit versucht, sich die Unwissen¬
heit der orientalischen Secten zu Nutze zu machen und sie in aller Stille zu
sich herüberzuziehen. Auch unter den nestorianischen Syrern waren römische
Glaubensboten erschienen und hatten einzelne Gemeinden vermocht, die Supre-
matie des Papstes anzuerkennen. Doch war der Erfolg dieser Bemühungen ein
sehr geringer; auf den Bildungszustand der Nestorianer hatten sie keinen Ein"
fluß. Diese Syrer lebten in gleicher Unwissenheit fort, mochten sie nun das
Ave Maria beten oder nicht.

Erst den Bemühungen protestantischer Missionäre aus Amerika ist es zu
verdanken, daß diese Gegenden in eine wahrhafte Verbindung mit der europäi-
schen Bildung getreten sind. Seit der Mitte der dreißiger Jahre haben einige
begeisterte Männer, von denen ich namentlich Justin Perkins hervorhebe, in
der Ebene von Arenia sehr Bedeutendes gewirkt und ihren Einfluß auch schon
auf das schwer zugängliche Bergland erstreckt. Der Zweck dieser Missionäre
war ein rein geistlicher. Sie wollten das in diesen Gegenden gänzlich ent¬
schlafene, nur noch formell bestehende Christenthum wieder erwecken und ihm
eine solche Form geben, wie sie ihnen als die einzig richtige erschien. Es galt
der Errichtung eines strengkirchlichen, puritanisch beengten, und dabei doch Pie¬
tistisch erweckten Christenthums nach amerikanischem Muster. Aber, indem ihnen
dies Ziel vorschwebte, waren sie doch zu einsichtig, um nicht zu erkennen, daß
sie ohne eine gewaltige Erhebung der Volksbildung vielleicht wohl eine augen¬
blickliche Erweckung bewirken, aber keinen soliden Bau errichten könnten.

Sie begannen also damit, die erste literarische Kunst, das Lesen, zu lehren.
Es bedürfte keiner geringen geistigen Anstrengung, bis zu einem glücklichen An¬
fang in dieser Lehrthätigkeit zu gelangen. Es wäre thöricht gewesen, die todte
Literatursprache ihrem Unterricht zu Grunde zu legen; sie mußten sich an die
Volkssprache wenden, in welcher bis dahin, ganz vereinzelte Versuche abgerechnet,
noch nie etwas Schriftliches abgefaßt gewesen war. Der Versuch, eine solche


Grenzboten I. 1866. 59

diesen Grenzgebieten wohl nie einen Hauptsitz gehabt, so war dasselbe in un¬
sern Tagen ganz entschlafen. Die Nestorianer der Berge standen den Kurden
nicht Viel an Wildheit nach, und die Bewohner der Ebene waren ihnen an
Bildung nicht viel überlegen. Das Bewußtsein, Christen zu sein, und ein paar
christliche Formen und Formeln waren alles, was die Laien von dem geistigen
Besitz ihrer Väter gerettet hatten. Die Geistlichen verstanden zwar zum Theil
die biblischen und sonstigen kirchlichen Schriften zu lesen, aber nur wenige hatten
ein ungefähres Verständniß des Gelesenen. Waren doch jene Schriften in einer
längst ausgestorbenen Sprache, der altsyrischen, geschrieben, während man sich
im Leben nur eines ohne alle literansche Einflüsse wild aufgewachsenen Dia»
kaltes bediente, welcher jener wenigstens ebenso fern steht, wie unser jetziges Hoch,
deutsch der Sprache Otfrieds.

Die römische Kirche hatte schon seit alter Zeit versucht, sich die Unwissen¬
heit der orientalischen Secten zu Nutze zu machen und sie in aller Stille zu
sich herüberzuziehen. Auch unter den nestorianischen Syrern waren römische
Glaubensboten erschienen und hatten einzelne Gemeinden vermocht, die Supre-
matie des Papstes anzuerkennen. Doch war der Erfolg dieser Bemühungen ein
sehr geringer; auf den Bildungszustand der Nestorianer hatten sie keinen Ein«
fluß. Diese Syrer lebten in gleicher Unwissenheit fort, mochten sie nun das
Ave Maria beten oder nicht.

Erst den Bemühungen protestantischer Missionäre aus Amerika ist es zu
verdanken, daß diese Gegenden in eine wahrhafte Verbindung mit der europäi-
schen Bildung getreten sind. Seit der Mitte der dreißiger Jahre haben einige
begeisterte Männer, von denen ich namentlich Justin Perkins hervorhebe, in
der Ebene von Arenia sehr Bedeutendes gewirkt und ihren Einfluß auch schon
auf das schwer zugängliche Bergland erstreckt. Der Zweck dieser Missionäre
war ein rein geistlicher. Sie wollten das in diesen Gegenden gänzlich ent¬
schlafene, nur noch formell bestehende Christenthum wieder erwecken und ihm
eine solche Form geben, wie sie ihnen als die einzig richtige erschien. Es galt
der Errichtung eines strengkirchlichen, puritanisch beengten, und dabei doch Pie¬
tistisch erweckten Christenthums nach amerikanischem Muster. Aber, indem ihnen
dies Ziel vorschwebte, waren sie doch zu einsichtig, um nicht zu erkennen, daß
sie ohne eine gewaltige Erhebung der Volksbildung vielleicht wohl eine augen¬
blickliche Erweckung bewirken, aber keinen soliden Bau errichten könnten.

Sie begannen also damit, die erste literarische Kunst, das Lesen, zu lehren.
Es bedürfte keiner geringen geistigen Anstrengung, bis zu einem glücklichen An¬
fang in dieser Lehrthätigkeit zu gelangen. Es wäre thöricht gewesen, die todte
Literatursprache ihrem Unterricht zu Grunde zu legen; sie mußten sich an die
Volkssprache wenden, in welcher bis dahin, ganz vereinzelte Versuche abgerechnet,
noch nie etwas Schriftliches abgefaßt gewesen war. Der Versuch, eine solche


Grenzboten I. 1866. 59
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[0493] diesen Grenzgebieten wohl nie einen Hauptsitz gehabt, so war dasselbe in un¬ sern Tagen ganz entschlafen. Die Nestorianer der Berge standen den Kurden nicht Viel an Wildheit nach, und die Bewohner der Ebene waren ihnen an Bildung nicht viel überlegen. Das Bewußtsein, Christen zu sein, und ein paar christliche Formen und Formeln waren alles, was die Laien von dem geistigen Besitz ihrer Väter gerettet hatten. Die Geistlichen verstanden zwar zum Theil die biblischen und sonstigen kirchlichen Schriften zu lesen, aber nur wenige hatten ein ungefähres Verständniß des Gelesenen. Waren doch jene Schriften in einer längst ausgestorbenen Sprache, der altsyrischen, geschrieben, während man sich im Leben nur eines ohne alle literansche Einflüsse wild aufgewachsenen Dia» kaltes bediente, welcher jener wenigstens ebenso fern steht, wie unser jetziges Hoch, deutsch der Sprache Otfrieds. Die römische Kirche hatte schon seit alter Zeit versucht, sich die Unwissen¬ heit der orientalischen Secten zu Nutze zu machen und sie in aller Stille zu sich herüberzuziehen. Auch unter den nestorianischen Syrern waren römische Glaubensboten erschienen und hatten einzelne Gemeinden vermocht, die Supre- matie des Papstes anzuerkennen. Doch war der Erfolg dieser Bemühungen ein sehr geringer; auf den Bildungszustand der Nestorianer hatten sie keinen Ein« fluß. Diese Syrer lebten in gleicher Unwissenheit fort, mochten sie nun das Ave Maria beten oder nicht. Erst den Bemühungen protestantischer Missionäre aus Amerika ist es zu verdanken, daß diese Gegenden in eine wahrhafte Verbindung mit der europäi- schen Bildung getreten sind. Seit der Mitte der dreißiger Jahre haben einige begeisterte Männer, von denen ich namentlich Justin Perkins hervorhebe, in der Ebene von Arenia sehr Bedeutendes gewirkt und ihren Einfluß auch schon auf das schwer zugängliche Bergland erstreckt. Der Zweck dieser Missionäre war ein rein geistlicher. Sie wollten das in diesen Gegenden gänzlich ent¬ schlafene, nur noch formell bestehende Christenthum wieder erwecken und ihm eine solche Form geben, wie sie ihnen als die einzig richtige erschien. Es galt der Errichtung eines strengkirchlichen, puritanisch beengten, und dabei doch Pie¬ tistisch erweckten Christenthums nach amerikanischem Muster. Aber, indem ihnen dies Ziel vorschwebte, waren sie doch zu einsichtig, um nicht zu erkennen, daß sie ohne eine gewaltige Erhebung der Volksbildung vielleicht wohl eine augen¬ blickliche Erweckung bewirken, aber keinen soliden Bau errichten könnten. Sie begannen also damit, die erste literarische Kunst, das Lesen, zu lehren. Es bedürfte keiner geringen geistigen Anstrengung, bis zu einem glücklichen An¬ fang in dieser Lehrthätigkeit zu gelangen. Es wäre thöricht gewesen, die todte Literatursprache ihrem Unterricht zu Grunde zu legen; sie mußten sich an die Volkssprache wenden, in welcher bis dahin, ganz vereinzelte Versuche abgerechnet, noch nie etwas Schriftliches abgefaßt gewesen war. Der Versuch, eine solche Grenzboten I. 1866. 59

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/493>, abgerufen am 17.06.2024.