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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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Napoleons, der jenseits der Weichsel stand, vorgedrungen, die vielen vorhandenen
zersprengten Soldaten der alten preußischen Armee gesammelt, ein Aufstand der
Bevölkerung hervorgerufen u. s. w., alles Verlorne sollte von hier aus wieder
gewonnen werden. -- Denn das war das Eigenthümlichste des neuen Comman¬
danten, daß er in allen Dingen immer weit über das Zunächstliegende hinaus¬
sah. In ihm waren ein sehr klarer Verstand, mühsam erworbene Kenntnisse,
ein in der Noth gestählter Wille sehr merkwürdig mit höchst elastischem, sangui-
nischen Sinn und einer stets regen Phantasie verbunden. Weit aussehend, wie
seine Pläne für Kolberg, waren sie auch in seinem Familienleben, in seiner
Landwirthschaft, wie später als er im Staate eingriff und die Operationen eines
Heeres leitete. Aber wie wolkenhoch er auch seine Pläne anlegte, eng verband
er doch die Zukunft mit der Gegenwart; er suchte und fand immer im Nächsten
die Mittel, um die Gebäude seiner Phantasie zu begründen, emsig trug er jeden
Stein zusammen, um den hohen Thurm zu bauen, und kein Mißgeschick, kein
Fehlgriff ermüdete ihn und brachte ihn von dem begonnenen Werke ab. Die
Größe des gesteckten Zieles bewahrte ihm die Frische des Geistes und die
Kraft zur That, wenn alle um ihn her ermatteten oder kleinmüthig wurden,
weil die nächsten Erfolge ihnen daS Ziel raubten; die Weite seines Gesichts¬
feldes ließ ihn stets neue Mittel zur Erreichung seines Zweckes finden, während
Andere bei dem Anblick des Versagens im nächsten Kreise rathlos wurden.

Bei der ersten That, durch welche Gneisenau in der Geschichte auftritt,
bei der Vertheidigung von Kolberg, traten alle diese glänzenden Eigenschaften
in doppeltem Glänze hervor, weil er ganz auf sich beschränkt, von allen Hilfs¬
quellen, welche die eigne Negierung bieten konnte, entblößt und getrennt war.
Kolberg hatte beim Antritt seines Commandos eine Besatzung von 6000 Mann,
eine Zahl, die seiner Bevölkerung von 5000 Seelen gegenüber außerordentlich
groß erscheint, bei der Ausdehnung der zu vertheidigenden Linie bis zu der
'/"Meile entfernten Mündung der Persante in das Meer und bei der Trennung
der Linien durch diesen Fluß aber als gering bezeichnet werden muh. Dabei
bestand die Garnison zum Theil aus neusormirten Truppen, und aus dem sehr
lose zusammengefügten Schillschen Freicorps. Schill selbst war zu dem bei
Stralsund in der Formation begriffnen Corps von Blücher abgegangen. Die
Franzosen hatten die Festung mit 9000 Mann, später mit 16,000 Mann ein-
geschlossen. Gneisenau erhielt im Lauf des Monats Mai noch eine Verstärkung
von einem Bataillon und formirte selbst noch eine Abtheilung Jäger, zu welcher
er die Mannschaften aus dem Lande, selbst bis aus der Gegend von Berlin
zu schaffen wußte. Reitende Artillerie hatte Gneisenau gar nicht, er holte sich
Pferde vom Lande und formirte sie. Proviant hatte die Festung hinreichend,
auch ging er noch von Riga und Kopenhagen zu. -- Schlecht sah es aus mit
der Ausrüstung an Geschütz und Munition. Es waren nur wenige eiserne Ge-


Napoleons, der jenseits der Weichsel stand, vorgedrungen, die vielen vorhandenen
zersprengten Soldaten der alten preußischen Armee gesammelt, ein Aufstand der
Bevölkerung hervorgerufen u. s. w., alles Verlorne sollte von hier aus wieder
gewonnen werden. — Denn das war das Eigenthümlichste des neuen Comman¬
danten, daß er in allen Dingen immer weit über das Zunächstliegende hinaus¬
sah. In ihm waren ein sehr klarer Verstand, mühsam erworbene Kenntnisse,
ein in der Noth gestählter Wille sehr merkwürdig mit höchst elastischem, sangui-
nischen Sinn und einer stets regen Phantasie verbunden. Weit aussehend, wie
seine Pläne für Kolberg, waren sie auch in seinem Familienleben, in seiner
Landwirthschaft, wie später als er im Staate eingriff und die Operationen eines
Heeres leitete. Aber wie wolkenhoch er auch seine Pläne anlegte, eng verband
er doch die Zukunft mit der Gegenwart; er suchte und fand immer im Nächsten
die Mittel, um die Gebäude seiner Phantasie zu begründen, emsig trug er jeden
Stein zusammen, um den hohen Thurm zu bauen, und kein Mißgeschick, kein
Fehlgriff ermüdete ihn und brachte ihn von dem begonnenen Werke ab. Die
Größe des gesteckten Zieles bewahrte ihm die Frische des Geistes und die
Kraft zur That, wenn alle um ihn her ermatteten oder kleinmüthig wurden,
weil die nächsten Erfolge ihnen daS Ziel raubten; die Weite seines Gesichts¬
feldes ließ ihn stets neue Mittel zur Erreichung seines Zweckes finden, während
Andere bei dem Anblick des Versagens im nächsten Kreise rathlos wurden.

Bei der ersten That, durch welche Gneisenau in der Geschichte auftritt,
bei der Vertheidigung von Kolberg, traten alle diese glänzenden Eigenschaften
in doppeltem Glänze hervor, weil er ganz auf sich beschränkt, von allen Hilfs¬
quellen, welche die eigne Negierung bieten konnte, entblößt und getrennt war.
Kolberg hatte beim Antritt seines Commandos eine Besatzung von 6000 Mann,
eine Zahl, die seiner Bevölkerung von 5000 Seelen gegenüber außerordentlich
groß erscheint, bei der Ausdehnung der zu vertheidigenden Linie bis zu der
'/«Meile entfernten Mündung der Persante in das Meer und bei der Trennung
der Linien durch diesen Fluß aber als gering bezeichnet werden muh. Dabei
bestand die Garnison zum Theil aus neusormirten Truppen, und aus dem sehr
lose zusammengefügten Schillschen Freicorps. Schill selbst war zu dem bei
Stralsund in der Formation begriffnen Corps von Blücher abgegangen. Die
Franzosen hatten die Festung mit 9000 Mann, später mit 16,000 Mann ein-
geschlossen. Gneisenau erhielt im Lauf des Monats Mai noch eine Verstärkung
von einem Bataillon und formirte selbst noch eine Abtheilung Jäger, zu welcher
er die Mannschaften aus dem Lande, selbst bis aus der Gegend von Berlin
zu schaffen wußte. Reitende Artillerie hatte Gneisenau gar nicht, er holte sich
Pferde vom Lande und formirte sie. Proviant hatte die Festung hinreichend,
auch ging er noch von Riga und Kopenhagen zu. — Schlecht sah es aus mit
der Ausrüstung an Geschütz und Munition. Es waren nur wenige eiserne Ge-


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[0162] Napoleons, der jenseits der Weichsel stand, vorgedrungen, die vielen vorhandenen zersprengten Soldaten der alten preußischen Armee gesammelt, ein Aufstand der Bevölkerung hervorgerufen u. s. w., alles Verlorne sollte von hier aus wieder gewonnen werden. — Denn das war das Eigenthümlichste des neuen Comman¬ danten, daß er in allen Dingen immer weit über das Zunächstliegende hinaus¬ sah. In ihm waren ein sehr klarer Verstand, mühsam erworbene Kenntnisse, ein in der Noth gestählter Wille sehr merkwürdig mit höchst elastischem, sangui- nischen Sinn und einer stets regen Phantasie verbunden. Weit aussehend, wie seine Pläne für Kolberg, waren sie auch in seinem Familienleben, in seiner Landwirthschaft, wie später als er im Staate eingriff und die Operationen eines Heeres leitete. Aber wie wolkenhoch er auch seine Pläne anlegte, eng verband er doch die Zukunft mit der Gegenwart; er suchte und fand immer im Nächsten die Mittel, um die Gebäude seiner Phantasie zu begründen, emsig trug er jeden Stein zusammen, um den hohen Thurm zu bauen, und kein Mißgeschick, kein Fehlgriff ermüdete ihn und brachte ihn von dem begonnenen Werke ab. Die Größe des gesteckten Zieles bewahrte ihm die Frische des Geistes und die Kraft zur That, wenn alle um ihn her ermatteten oder kleinmüthig wurden, weil die nächsten Erfolge ihnen daS Ziel raubten; die Weite seines Gesichts¬ feldes ließ ihn stets neue Mittel zur Erreichung seines Zweckes finden, während Andere bei dem Anblick des Versagens im nächsten Kreise rathlos wurden. Bei der ersten That, durch welche Gneisenau in der Geschichte auftritt, bei der Vertheidigung von Kolberg, traten alle diese glänzenden Eigenschaften in doppeltem Glänze hervor, weil er ganz auf sich beschränkt, von allen Hilfs¬ quellen, welche die eigne Negierung bieten konnte, entblößt und getrennt war. Kolberg hatte beim Antritt seines Commandos eine Besatzung von 6000 Mann, eine Zahl, die seiner Bevölkerung von 5000 Seelen gegenüber außerordentlich groß erscheint, bei der Ausdehnung der zu vertheidigenden Linie bis zu der '/«Meile entfernten Mündung der Persante in das Meer und bei der Trennung der Linien durch diesen Fluß aber als gering bezeichnet werden muh. Dabei bestand die Garnison zum Theil aus neusormirten Truppen, und aus dem sehr lose zusammengefügten Schillschen Freicorps. Schill selbst war zu dem bei Stralsund in der Formation begriffnen Corps von Blücher abgegangen. Die Franzosen hatten die Festung mit 9000 Mann, später mit 16,000 Mann ein- geschlossen. Gneisenau erhielt im Lauf des Monats Mai noch eine Verstärkung von einem Bataillon und formirte selbst noch eine Abtheilung Jäger, zu welcher er die Mannschaften aus dem Lande, selbst bis aus der Gegend von Berlin zu schaffen wußte. Reitende Artillerie hatte Gneisenau gar nicht, er holte sich Pferde vom Lande und formirte sie. Proviant hatte die Festung hinreichend, auch ging er noch von Riga und Kopenhagen zu. — Schlecht sah es aus mit der Ausrüstung an Geschütz und Munition. Es waren nur wenige eiserne Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/162>, abgerufen am 05.06.2024.