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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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der Ausbreitung gothischer Herrschaft. Er schildert sie mit all dem phrasenhaften
Pathos, dem geistreich sein sollenden Haschen nach Antithesen, das den Stil der
Autoren dieser Periode charakterisirt, und seinen Bericht hat dann Gregor von
Tours noch obendrein entstellt wiedergegeben. Aus letzterem wiederholen endlich
einige Geschichtschreiber kritiklos und ausmalend die alte Anklage gegen die
Westgothen. Wahrend der Friedenszeit hören wir durchaus nichts von Be¬
drückungen, im Gegentheil findet hier der heilige Abraham, der aus Afrika vor
der Katholikenverfolgung geflohen war, Aufnahme und, als er stirbt, ein glänzendes
Begräbniß durch einen Römer, der Beamter des Gothenkönigs war. Uebrigens
ist nicht zu bezweifeln, daß bei der Abtretung des Landes 419 die Sicherheit
des katholischen Glaubens ausdrücklich zugestanden ward, und daß dies nicht
unwesentlich beitrug zu dieser günstigen Lage der katholischen Kirche.

Auch ihr römisches Recht bewahrten die Provincialen nach dem altgermani¬
schen Grundsatze der. persönlichen Rechte, ja der Sohn Eurichs, Alarich der
Zweite, kam dem Bedürfniß derselben entgegen und ließ eine Codification,
eine praktisch brauchbare Zusammenstellung der geltenden Gesetze veranstalten, das
sog. Lreviarirun ^larieiarmm. Es ist dies der erste derartige Versuch, der
allerdings in der justinianeischeu Gesetzgebung in ganz anderer Weise gelingen
sollte. Durch welche Einrichtungen die mannigfaltigen Conflicte ausgeglichen
wurden, welche nothwendig entstehn, wo die Theile eines Volkes nach so ver¬
schiedenen Rechten leben, ist nicht immer zu erweisen.

Endlich bedarf es kaum einer Erwähnung, daß die Sitten, die Lebens¬
gewohnheiten der einfachen, bäurisch rohen Germanen, einen grellen Contrast
bildeten zu der überfeinerten, verschlissenen Cultur der Römer. Und dennoch
trotz dieser vielfachen GegenMe bildeten sie zusammen, den neuen Staat, wir
würden gänzlich irren, wenn wir die Gothen als die einzigen Träger des tolo-
sanischen Reichs ansehen wollten, denen die Provintialen. als die beherrschten
gegenüberstehen,, gut zum Steuerzahler und brauchbar zu mannigfachen Ge¬
schäften, Wegen ihrer^Gewandtheit und größeren formellen Bildung.

Die im engern Sinne sogenannten Quellen für die Geschichte dieser Zeit,
d. h. die mit der Ansicht, die Kunde der Gegenwart den spätern Geschlechtern
zu übermitteln, abgefaßten Schuften lassen uns hiervon allerdings wenig ahnen,
aber in den damals vielfach veranstalteten Bnefsammlungen und anderen
Werken finden sich zerstreute, aber glaubwürdige, Nachrichten, welche jene Be¬
hauptung sichern-*)

Groß wa>r vor allem dqs Gedränge der Römer am Hofe des Königs, zu¬
mal wenn ein Theodorich der Zweite (5 467) auf dem Throne saß. Es wird
uns erzählt., dqß der spätere Kaiser Avitus (regiert 456), der um, einen nach



") Vorzüglich wichtig sind die Schriften des Sidonius Apollinaris. ein Autor, den ich
im Schweizer Museum Jahrgang 186S, Heft I. charakterisirt habe.

der Ausbreitung gothischer Herrschaft. Er schildert sie mit all dem phrasenhaften
Pathos, dem geistreich sein sollenden Haschen nach Antithesen, das den Stil der
Autoren dieser Periode charakterisirt, und seinen Bericht hat dann Gregor von
Tours noch obendrein entstellt wiedergegeben. Aus letzterem wiederholen endlich
einige Geschichtschreiber kritiklos und ausmalend die alte Anklage gegen die
Westgothen. Wahrend der Friedenszeit hören wir durchaus nichts von Be¬
drückungen, im Gegentheil findet hier der heilige Abraham, der aus Afrika vor
der Katholikenverfolgung geflohen war, Aufnahme und, als er stirbt, ein glänzendes
Begräbniß durch einen Römer, der Beamter des Gothenkönigs war. Uebrigens
ist nicht zu bezweifeln, daß bei der Abtretung des Landes 419 die Sicherheit
des katholischen Glaubens ausdrücklich zugestanden ward, und daß dies nicht
unwesentlich beitrug zu dieser günstigen Lage der katholischen Kirche.

Auch ihr römisches Recht bewahrten die Provincialen nach dem altgermani¬
schen Grundsatze der. persönlichen Rechte, ja der Sohn Eurichs, Alarich der
Zweite, kam dem Bedürfniß derselben entgegen und ließ eine Codification,
eine praktisch brauchbare Zusammenstellung der geltenden Gesetze veranstalten, das
sog. Lreviarirun ^larieiarmm. Es ist dies der erste derartige Versuch, der
allerdings in der justinianeischeu Gesetzgebung in ganz anderer Weise gelingen
sollte. Durch welche Einrichtungen die mannigfaltigen Conflicte ausgeglichen
wurden, welche nothwendig entstehn, wo die Theile eines Volkes nach so ver¬
schiedenen Rechten leben, ist nicht immer zu erweisen.

Endlich bedarf es kaum einer Erwähnung, daß die Sitten, die Lebens¬
gewohnheiten der einfachen, bäurisch rohen Germanen, einen grellen Contrast
bildeten zu der überfeinerten, verschlissenen Cultur der Römer. Und dennoch
trotz dieser vielfachen GegenMe bildeten sie zusammen, den neuen Staat, wir
würden gänzlich irren, wenn wir die Gothen als die einzigen Träger des tolo-
sanischen Reichs ansehen wollten, denen die Provintialen. als die beherrschten
gegenüberstehen,, gut zum Steuerzahler und brauchbar zu mannigfachen Ge¬
schäften, Wegen ihrer^Gewandtheit und größeren formellen Bildung.

Die im engern Sinne sogenannten Quellen für die Geschichte dieser Zeit,
d. h. die mit der Ansicht, die Kunde der Gegenwart den spätern Geschlechtern
zu übermitteln, abgefaßten Schuften lassen uns hiervon allerdings wenig ahnen,
aber in den damals vielfach veranstalteten Bnefsammlungen und anderen
Werken finden sich zerstreute, aber glaubwürdige, Nachrichten, welche jene Be¬
hauptung sichern-*)

Groß wa>r vor allem dqs Gedränge der Römer am Hofe des Königs, zu¬
mal wenn ein Theodorich der Zweite (5 467) auf dem Throne saß. Es wird
uns erzählt., dqß der spätere Kaiser Avitus (regiert 456), der um, einen nach



") Vorzüglich wichtig sind die Schriften des Sidonius Apollinaris. ein Autor, den ich
im Schweizer Museum Jahrgang 186S, Heft I. charakterisirt habe.
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[0198] der Ausbreitung gothischer Herrschaft. Er schildert sie mit all dem phrasenhaften Pathos, dem geistreich sein sollenden Haschen nach Antithesen, das den Stil der Autoren dieser Periode charakterisirt, und seinen Bericht hat dann Gregor von Tours noch obendrein entstellt wiedergegeben. Aus letzterem wiederholen endlich einige Geschichtschreiber kritiklos und ausmalend die alte Anklage gegen die Westgothen. Wahrend der Friedenszeit hören wir durchaus nichts von Be¬ drückungen, im Gegentheil findet hier der heilige Abraham, der aus Afrika vor der Katholikenverfolgung geflohen war, Aufnahme und, als er stirbt, ein glänzendes Begräbniß durch einen Römer, der Beamter des Gothenkönigs war. Uebrigens ist nicht zu bezweifeln, daß bei der Abtretung des Landes 419 die Sicherheit des katholischen Glaubens ausdrücklich zugestanden ward, und daß dies nicht unwesentlich beitrug zu dieser günstigen Lage der katholischen Kirche. Auch ihr römisches Recht bewahrten die Provincialen nach dem altgermani¬ schen Grundsatze der. persönlichen Rechte, ja der Sohn Eurichs, Alarich der Zweite, kam dem Bedürfniß derselben entgegen und ließ eine Codification, eine praktisch brauchbare Zusammenstellung der geltenden Gesetze veranstalten, das sog. Lreviarirun ^larieiarmm. Es ist dies der erste derartige Versuch, der allerdings in der justinianeischeu Gesetzgebung in ganz anderer Weise gelingen sollte. Durch welche Einrichtungen die mannigfaltigen Conflicte ausgeglichen wurden, welche nothwendig entstehn, wo die Theile eines Volkes nach so ver¬ schiedenen Rechten leben, ist nicht immer zu erweisen. Endlich bedarf es kaum einer Erwähnung, daß die Sitten, die Lebens¬ gewohnheiten der einfachen, bäurisch rohen Germanen, einen grellen Contrast bildeten zu der überfeinerten, verschlissenen Cultur der Römer. Und dennoch trotz dieser vielfachen GegenMe bildeten sie zusammen, den neuen Staat, wir würden gänzlich irren, wenn wir die Gothen als die einzigen Träger des tolo- sanischen Reichs ansehen wollten, denen die Provintialen. als die beherrschten gegenüberstehen,, gut zum Steuerzahler und brauchbar zu mannigfachen Ge¬ schäften, Wegen ihrer^Gewandtheit und größeren formellen Bildung. Die im engern Sinne sogenannten Quellen für die Geschichte dieser Zeit, d. h. die mit der Ansicht, die Kunde der Gegenwart den spätern Geschlechtern zu übermitteln, abgefaßten Schuften lassen uns hiervon allerdings wenig ahnen, aber in den damals vielfach veranstalteten Bnefsammlungen und anderen Werken finden sich zerstreute, aber glaubwürdige, Nachrichten, welche jene Be¬ hauptung sichern-*) Groß wa>r vor allem dqs Gedränge der Römer am Hofe des Königs, zu¬ mal wenn ein Theodorich der Zweite (5 467) auf dem Throne saß. Es wird uns erzählt., dqß der spätere Kaiser Avitus (regiert 456), der um, einen nach ") Vorzüglich wichtig sind die Schriften des Sidonius Apollinaris. ein Autor, den ich im Schweizer Museum Jahrgang 186S, Heft I. charakterisirt habe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/198>, abgerufen am 04.06.2024.