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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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und ihren Erklärern gewisse Elemente höherer Bildung bewahrte, die der
immer schrecklicher um sich greifenden Verwilderung gegenüber nothwendig Vor¬
zug und Einfluß verliehen. Einige Heiligenleben, die zu der Zeit entstanden
(c. 690), da Gregor von Tours sein unschätzbares Werk schrieb, das aber
den Mangel jeder Bildung selbst in den höchsten Kreisen offen bezeugt, er¬
innern noch lebhaft an die Tage des fünften Jahrhunderts, wo ein Theil des
gallischen Adels dem Traume nachhing, durch eifriges Studium der Alten eine
gewisse Nachblüthe römischer Literatur zu zeitigen. Auch lassen einige Wunder,
welche die naiven Zuschauer in Staunen setzten, vermuthen, daß sich an ein¬
zelnen Klöstern und Bischofssitzen die mechanische Kunstfertigkeit fortpflanzte,
welche eine Modebeschäftigung der müssigen römischen Aristokratie gebildet hatte.

Zwar traten bald auch Deutsche in den geistlichen Stand, doch wurden sie
hier zu Romanen. Die Kirche trägt so deutlich den Stempel römischen We¬
sens, daß man es gewöhnlich ganz unterläßt, nachzuforschen, ob die Entwick¬
lung ihrer Institutionen in diesen Jahrhunderten nicht auch Spuren zeige,
welche auf den Einfluß germanischer Naturen zurückdenken.

Die Römer sind also weit entfernt, in den während und nach der Völker¬
wanderung von den Germanen aus den Trümmern des zerfallenden römischen
Weltreichs gegründeten Staaten eine gedrückte, untergeordnete Stellung einzu¬
nehmen, und leicht ist es erklärlich, wie aus diesen germanischen Ansiedlungen
romanische d. h. aus germanischen und römischen Elementen gemischte Völker
und Staaten hervorgehen konnten.

Daß aber trotzdem die Staatsverfassung der gothischen, burgundischen,
fränkischen Reiche in ihren Grundzügen germanisch blieb, daß namentlich in
den fränkischen Institutionen sich nur geringe Spuren römischen Einflusses zei¬
gen: darin liegt ein glänzendes Zeugniß für die politische Fähigkeit, die staats¬
bildende Kraft unseres Volks. Vor dieser Thatsache verlieren alle die glänzen¬
den Tiraden ihren Halt, mit denen die Franzosen unsere Ahnen als ungesellige
Wilde charakterisirten, die in wüstem Durcheinander ihre Raus- und Raublust
befriedigten ohne Sinn für Recht und Gesetz und für staatliche Ordnung. Das
böse Wort F. Schlegels: "des Deutschen wahre Verfassung ist Anarchie", klingt
zwar geistreich, ist aber eine Phrase, welche das Wesen des altdeutschen Staats
völlig verkennt.




und ihren Erklärern gewisse Elemente höherer Bildung bewahrte, die der
immer schrecklicher um sich greifenden Verwilderung gegenüber nothwendig Vor¬
zug und Einfluß verliehen. Einige Heiligenleben, die zu der Zeit entstanden
(c. 690), da Gregor von Tours sein unschätzbares Werk schrieb, das aber
den Mangel jeder Bildung selbst in den höchsten Kreisen offen bezeugt, er¬
innern noch lebhaft an die Tage des fünften Jahrhunderts, wo ein Theil des
gallischen Adels dem Traume nachhing, durch eifriges Studium der Alten eine
gewisse Nachblüthe römischer Literatur zu zeitigen. Auch lassen einige Wunder,
welche die naiven Zuschauer in Staunen setzten, vermuthen, daß sich an ein¬
zelnen Klöstern und Bischofssitzen die mechanische Kunstfertigkeit fortpflanzte,
welche eine Modebeschäftigung der müssigen römischen Aristokratie gebildet hatte.

Zwar traten bald auch Deutsche in den geistlichen Stand, doch wurden sie
hier zu Romanen. Die Kirche trägt so deutlich den Stempel römischen We¬
sens, daß man es gewöhnlich ganz unterläßt, nachzuforschen, ob die Entwick¬
lung ihrer Institutionen in diesen Jahrhunderten nicht auch Spuren zeige,
welche auf den Einfluß germanischer Naturen zurückdenken.

Die Römer sind also weit entfernt, in den während und nach der Völker¬
wanderung von den Germanen aus den Trümmern des zerfallenden römischen
Weltreichs gegründeten Staaten eine gedrückte, untergeordnete Stellung einzu¬
nehmen, und leicht ist es erklärlich, wie aus diesen germanischen Ansiedlungen
romanische d. h. aus germanischen und römischen Elementen gemischte Völker
und Staaten hervorgehen konnten.

Daß aber trotzdem die Staatsverfassung der gothischen, burgundischen,
fränkischen Reiche in ihren Grundzügen germanisch blieb, daß namentlich in
den fränkischen Institutionen sich nur geringe Spuren römischen Einflusses zei¬
gen: darin liegt ein glänzendes Zeugniß für die politische Fähigkeit, die staats¬
bildende Kraft unseres Volks. Vor dieser Thatsache verlieren alle die glänzen¬
den Tiraden ihren Halt, mit denen die Franzosen unsere Ahnen als ungesellige
Wilde charakterisirten, die in wüstem Durcheinander ihre Raus- und Raublust
befriedigten ohne Sinn für Recht und Gesetz und für staatliche Ordnung. Das
böse Wort F. Schlegels: „des Deutschen wahre Verfassung ist Anarchie", klingt
zwar geistreich, ist aber eine Phrase, welche das Wesen des altdeutschen Staats
völlig verkennt.




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[0204] und ihren Erklärern gewisse Elemente höherer Bildung bewahrte, die der immer schrecklicher um sich greifenden Verwilderung gegenüber nothwendig Vor¬ zug und Einfluß verliehen. Einige Heiligenleben, die zu der Zeit entstanden (c. 690), da Gregor von Tours sein unschätzbares Werk schrieb, das aber den Mangel jeder Bildung selbst in den höchsten Kreisen offen bezeugt, er¬ innern noch lebhaft an die Tage des fünften Jahrhunderts, wo ein Theil des gallischen Adels dem Traume nachhing, durch eifriges Studium der Alten eine gewisse Nachblüthe römischer Literatur zu zeitigen. Auch lassen einige Wunder, welche die naiven Zuschauer in Staunen setzten, vermuthen, daß sich an ein¬ zelnen Klöstern und Bischofssitzen die mechanische Kunstfertigkeit fortpflanzte, welche eine Modebeschäftigung der müssigen römischen Aristokratie gebildet hatte. Zwar traten bald auch Deutsche in den geistlichen Stand, doch wurden sie hier zu Romanen. Die Kirche trägt so deutlich den Stempel römischen We¬ sens, daß man es gewöhnlich ganz unterläßt, nachzuforschen, ob die Entwick¬ lung ihrer Institutionen in diesen Jahrhunderten nicht auch Spuren zeige, welche auf den Einfluß germanischer Naturen zurückdenken. Die Römer sind also weit entfernt, in den während und nach der Völker¬ wanderung von den Germanen aus den Trümmern des zerfallenden römischen Weltreichs gegründeten Staaten eine gedrückte, untergeordnete Stellung einzu¬ nehmen, und leicht ist es erklärlich, wie aus diesen germanischen Ansiedlungen romanische d. h. aus germanischen und römischen Elementen gemischte Völker und Staaten hervorgehen konnten. Daß aber trotzdem die Staatsverfassung der gothischen, burgundischen, fränkischen Reiche in ihren Grundzügen germanisch blieb, daß namentlich in den fränkischen Institutionen sich nur geringe Spuren römischen Einflusses zei¬ gen: darin liegt ein glänzendes Zeugniß für die politische Fähigkeit, die staats¬ bildende Kraft unseres Volks. Vor dieser Thatsache verlieren alle die glänzen¬ den Tiraden ihren Halt, mit denen die Franzosen unsere Ahnen als ungesellige Wilde charakterisirten, die in wüstem Durcheinander ihre Raus- und Raublust befriedigten ohne Sinn für Recht und Gesetz und für staatliche Ordnung. Das böse Wort F. Schlegels: „des Deutschen wahre Verfassung ist Anarchie", klingt zwar geistreich, ist aber eine Phrase, welche das Wesen des altdeutschen Staats völlig verkennt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/204>, abgerufen am 16.05.2024.