Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

einen innern Zusammenhang, eine stufenweise Entwicklung der Gedanken von
einem Liede zum andern nachweisen wollen. Dies ist nur möglich durch das
Hineinlegen von Gedanken, die man bei unbefangenem Lesen nicht darin findet.
Und würde wohl ein Dichter, welcher trotz aller Noth von der Rückkehr der gött¬
lichen Gnade und der Bestrafung der Feinde überzeugt ist, und diese Ueberzeu¬
gung am Schluß des dritten und vierten Liedes ausspricht, das letzte Lied des
ganzen Kreises mit dem Ausdruck des Verzagens schließen, den wir 5, 22
finden?

Thenius hat darauf hingewiesen, daß die Lieder der Form und dem Werthe
nach eine nicht unbedeutende Verschiedenheit zeigen. Vier Lieder sind alphabetisch,
d. h. sie beginnen je einen oder je mehre Verse mit einem bestimmten Buchstaben
nach der Reihenfolge des Alphabets; aber nicht nur zeigt der Versbau selbst innerhalb
derselben bedeutende Verschiedenheiten, sondern, was noch wichtiger, im zweiten
und vierten Liede weicht die alphabetische Ordnung von der in den beiden andern
sowie sonst stets beobachteten in einem Punkte ab.*) Grade diese Gedichte
heben sich nun auch als die wertvollsten aus der ganzen Sammlung heraus
und sind deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit einem besondern Verfasser bei¬
zulegen. Das dritte Lied, welches in seinem Versbau stark von den andern
abweicht, hat am wenigsten Werth und muß jedenfalls einem eignen Dichter
zugeschrieben werden. DaS fünfte Lied ist nicht alphabetisch, kann jedoch darum
recht gut mit einem der andern, etwa mit dem ersten, einen Verfasser haben.
Wir hätten demnach drei (oder vier) Gruppen: 2 und 4; 1 und 5; 3.

Von diesen Gruppen können wir keine mit einiger Sicherheit für jeremi-
anisch erklären. Thenius möchte wenigstens die beiden schönsten, 2 und 4, für
den Jeremia retten, aber ohne uns zu überzeugen. Wenn wir uns doch einmal
genöthigt sehn, die Ueberlieferung fallen zu lassen, so müssen gewichtige positive
Gründe für eine solche Ansicht angeführt werden, und solche giebt er nicht.
Grade im vierten Liede kommt der oben erwähnte Ausspruch über den Zedekia
("unser Lebensodem, der Gesalbte des Herrn, von dem wir sagten: in seinem
Schatten werden wir unter den Völkern leben") vor, der mit den Aeußerungen in den
sicher echten Schriften Jeremias wenig übereinstimmt. Durchgängig würden wir
bei Jeremia eine noch herbere Betonung der Sünde des Volkes erwarten, als
die hier erscheinende; schwerlich hätte er auch ganz verschwiegen, daß Gott
durch ihn all dies Leiden vorhergesagt habe. Vollständig gegen Jeremias
Ausfassung ist die Stelle 5.7, nach welcher das israelitische Volk nicht sowohl
für die eigne, als für die Schuld der Vorfahren büßen müsse.

So viel ist aber wenigstens in Bezug auf die Lieder 1, 2, 4, S gewiß,
daß sie sich auf das von Jeremia vorhergesagte und von ihm selbst erlebte Un-



') ?s steht vor ^in; das ist, als ob bei uns 1' vor 0 stände.

einen innern Zusammenhang, eine stufenweise Entwicklung der Gedanken von
einem Liede zum andern nachweisen wollen. Dies ist nur möglich durch das
Hineinlegen von Gedanken, die man bei unbefangenem Lesen nicht darin findet.
Und würde wohl ein Dichter, welcher trotz aller Noth von der Rückkehr der gött¬
lichen Gnade und der Bestrafung der Feinde überzeugt ist, und diese Ueberzeu¬
gung am Schluß des dritten und vierten Liedes ausspricht, das letzte Lied des
ganzen Kreises mit dem Ausdruck des Verzagens schließen, den wir 5, 22
finden?

Thenius hat darauf hingewiesen, daß die Lieder der Form und dem Werthe
nach eine nicht unbedeutende Verschiedenheit zeigen. Vier Lieder sind alphabetisch,
d. h. sie beginnen je einen oder je mehre Verse mit einem bestimmten Buchstaben
nach der Reihenfolge des Alphabets; aber nicht nur zeigt der Versbau selbst innerhalb
derselben bedeutende Verschiedenheiten, sondern, was noch wichtiger, im zweiten
und vierten Liede weicht die alphabetische Ordnung von der in den beiden andern
sowie sonst stets beobachteten in einem Punkte ab.*) Grade diese Gedichte
heben sich nun auch als die wertvollsten aus der ganzen Sammlung heraus
und sind deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit einem besondern Verfasser bei¬
zulegen. Das dritte Lied, welches in seinem Versbau stark von den andern
abweicht, hat am wenigsten Werth und muß jedenfalls einem eignen Dichter
zugeschrieben werden. DaS fünfte Lied ist nicht alphabetisch, kann jedoch darum
recht gut mit einem der andern, etwa mit dem ersten, einen Verfasser haben.
Wir hätten demnach drei (oder vier) Gruppen: 2 und 4; 1 und 5; 3.

Von diesen Gruppen können wir keine mit einiger Sicherheit für jeremi-
anisch erklären. Thenius möchte wenigstens die beiden schönsten, 2 und 4, für
den Jeremia retten, aber ohne uns zu überzeugen. Wenn wir uns doch einmal
genöthigt sehn, die Ueberlieferung fallen zu lassen, so müssen gewichtige positive
Gründe für eine solche Ansicht angeführt werden, und solche giebt er nicht.
Grade im vierten Liede kommt der oben erwähnte Ausspruch über den Zedekia
(„unser Lebensodem, der Gesalbte des Herrn, von dem wir sagten: in seinem
Schatten werden wir unter den Völkern leben") vor, der mit den Aeußerungen in den
sicher echten Schriften Jeremias wenig übereinstimmt. Durchgängig würden wir
bei Jeremia eine noch herbere Betonung der Sünde des Volkes erwarten, als
die hier erscheinende; schwerlich hätte er auch ganz verschwiegen, daß Gott
durch ihn all dies Leiden vorhergesagt habe. Vollständig gegen Jeremias
Ausfassung ist die Stelle 5.7, nach welcher das israelitische Volk nicht sowohl
für die eigne, als für die Schuld der Vorfahren büßen müsse.

So viel ist aber wenigstens in Bezug auf die Lieder 1, 2, 4, S gewiß,
daß sie sich auf das von Jeremia vorhergesagte und von ihm selbst erlebte Un-



') ?s steht vor ^in; das ist, als ob bei uns 1' vor 0 stände.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0418" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/285446"/>
          <p xml:id="ID_1264" prev="#ID_1263"> einen innern Zusammenhang, eine stufenweise Entwicklung der Gedanken von<lb/>
einem Liede zum andern nachweisen wollen. Dies ist nur möglich durch das<lb/>
Hineinlegen von Gedanken, die man bei unbefangenem Lesen nicht darin findet.<lb/>
Und würde wohl ein Dichter, welcher trotz aller Noth von der Rückkehr der gött¬<lb/>
lichen Gnade und der Bestrafung der Feinde überzeugt ist, und diese Ueberzeu¬<lb/>
gung am Schluß des dritten und vierten Liedes ausspricht, das letzte Lied des<lb/>
ganzen Kreises mit dem Ausdruck des Verzagens schließen, den wir 5, 22<lb/>
finden?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1265"> Thenius hat darauf hingewiesen, daß die Lieder der Form und dem Werthe<lb/>
nach eine nicht unbedeutende Verschiedenheit zeigen. Vier Lieder sind alphabetisch,<lb/>
d. h. sie beginnen je einen oder je mehre Verse mit einem bestimmten Buchstaben<lb/>
nach der Reihenfolge des Alphabets; aber nicht nur zeigt der Versbau selbst innerhalb<lb/>
derselben bedeutende Verschiedenheiten, sondern, was noch wichtiger, im zweiten<lb/>
und vierten Liede weicht die alphabetische Ordnung von der in den beiden andern<lb/>
sowie sonst stets beobachteten in einem Punkte ab.*) Grade diese Gedichte<lb/>
heben sich nun auch als die wertvollsten aus der ganzen Sammlung heraus<lb/>
und sind deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit einem besondern Verfasser bei¬<lb/>
zulegen. Das dritte Lied, welches in seinem Versbau stark von den andern<lb/>
abweicht, hat am wenigsten Werth und muß jedenfalls einem eignen Dichter<lb/>
zugeschrieben werden. DaS fünfte Lied ist nicht alphabetisch, kann jedoch darum<lb/>
recht gut mit einem der andern, etwa mit dem ersten, einen Verfasser haben.<lb/>
Wir hätten demnach drei (oder vier) Gruppen: 2 und 4; 1 und 5; 3.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1266"> Von diesen Gruppen können wir keine mit einiger Sicherheit für jeremi-<lb/>
anisch erklären. Thenius möchte wenigstens die beiden schönsten, 2 und 4, für<lb/>
den Jeremia retten, aber ohne uns zu überzeugen. Wenn wir uns doch einmal<lb/>
genöthigt sehn, die Ueberlieferung fallen zu lassen, so müssen gewichtige positive<lb/>
Gründe für eine solche Ansicht angeführt werden, und solche giebt er nicht.<lb/>
Grade im vierten Liede kommt der oben erwähnte Ausspruch über den Zedekia<lb/>
(&#x201E;unser Lebensodem, der Gesalbte des Herrn, von dem wir sagten: in seinem<lb/>
Schatten werden wir unter den Völkern leben") vor, der mit den Aeußerungen in den<lb/>
sicher echten Schriften Jeremias wenig übereinstimmt. Durchgängig würden wir<lb/>
bei Jeremia eine noch herbere Betonung der Sünde des Volkes erwarten, als<lb/>
die hier erscheinende; schwerlich hätte er auch ganz verschwiegen, daß Gott<lb/>
durch ihn all dies Leiden vorhergesagt habe. Vollständig gegen Jeremias<lb/>
Ausfassung ist die Stelle 5.7, nach welcher das israelitische Volk nicht sowohl<lb/>
für die eigne, als für die Schuld der Vorfahren büßen müsse.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1267" next="#ID_1268"> So viel ist aber wenigstens in Bezug auf die Lieder 1, 2, 4, S gewiß,<lb/>
daß sie sich auf das von Jeremia vorhergesagte und von ihm selbst erlebte Un-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_42" place="foot"> ') ?s steht vor ^in; das ist, als ob bei uns 1' vor 0 stände.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0418] einen innern Zusammenhang, eine stufenweise Entwicklung der Gedanken von einem Liede zum andern nachweisen wollen. Dies ist nur möglich durch das Hineinlegen von Gedanken, die man bei unbefangenem Lesen nicht darin findet. Und würde wohl ein Dichter, welcher trotz aller Noth von der Rückkehr der gött¬ lichen Gnade und der Bestrafung der Feinde überzeugt ist, und diese Ueberzeu¬ gung am Schluß des dritten und vierten Liedes ausspricht, das letzte Lied des ganzen Kreises mit dem Ausdruck des Verzagens schließen, den wir 5, 22 finden? Thenius hat darauf hingewiesen, daß die Lieder der Form und dem Werthe nach eine nicht unbedeutende Verschiedenheit zeigen. Vier Lieder sind alphabetisch, d. h. sie beginnen je einen oder je mehre Verse mit einem bestimmten Buchstaben nach der Reihenfolge des Alphabets; aber nicht nur zeigt der Versbau selbst innerhalb derselben bedeutende Verschiedenheiten, sondern, was noch wichtiger, im zweiten und vierten Liede weicht die alphabetische Ordnung von der in den beiden andern sowie sonst stets beobachteten in einem Punkte ab.*) Grade diese Gedichte heben sich nun auch als die wertvollsten aus der ganzen Sammlung heraus und sind deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit einem besondern Verfasser bei¬ zulegen. Das dritte Lied, welches in seinem Versbau stark von den andern abweicht, hat am wenigsten Werth und muß jedenfalls einem eignen Dichter zugeschrieben werden. DaS fünfte Lied ist nicht alphabetisch, kann jedoch darum recht gut mit einem der andern, etwa mit dem ersten, einen Verfasser haben. Wir hätten demnach drei (oder vier) Gruppen: 2 und 4; 1 und 5; 3. Von diesen Gruppen können wir keine mit einiger Sicherheit für jeremi- anisch erklären. Thenius möchte wenigstens die beiden schönsten, 2 und 4, für den Jeremia retten, aber ohne uns zu überzeugen. Wenn wir uns doch einmal genöthigt sehn, die Ueberlieferung fallen zu lassen, so müssen gewichtige positive Gründe für eine solche Ansicht angeführt werden, und solche giebt er nicht. Grade im vierten Liede kommt der oben erwähnte Ausspruch über den Zedekia („unser Lebensodem, der Gesalbte des Herrn, von dem wir sagten: in seinem Schatten werden wir unter den Völkern leben") vor, der mit den Aeußerungen in den sicher echten Schriften Jeremias wenig übereinstimmt. Durchgängig würden wir bei Jeremia eine noch herbere Betonung der Sünde des Volkes erwarten, als die hier erscheinende; schwerlich hätte er auch ganz verschwiegen, daß Gott durch ihn all dies Leiden vorhergesagt habe. Vollständig gegen Jeremias Ausfassung ist die Stelle 5.7, nach welcher das israelitische Volk nicht sowohl für die eigne, als für die Schuld der Vorfahren büßen müsse. So viel ist aber wenigstens in Bezug auf die Lieder 1, 2, 4, S gewiß, daß sie sich auf das von Jeremia vorhergesagte und von ihm selbst erlebte Un- ') ?s steht vor ^in; das ist, als ob bei uns 1' vor 0 stände.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/418
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/418>, abgerufen am 29.05.2024.