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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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reichs die Wiederkehr der alten Fremdherren zu fürchten. In Deutschland be¬
deutete die Herrschaft Napoleons die gewaltsame Unterdrückung des nationalen
Geistes, der sich nur aufraffte, um den Eroberer zu stürzen. In Italien hatte
sie umgekehrt das seit Jahrhunderten schlummernde nationale Gefühl geweckt
und ihm selbst eine gewisse Befriedigung gewährt. Man haßte den Bedrücker
und fühlte sich doch an seinen Siegeswagen gefesselt; man ersehnte seinen Fall
und zitterte doch den Folgen desselben entgegen. Stumm und kalt blieb daher
das Volk bei den süßen Worten Freiheit und Unabhängigkeit in den Prokla¬
mationen der Alliirten. Keine Volksbewegung unterstützte die Vertreibung der
Franzosen, in der Literatur hat die Befreiung von zwanzigjährigen schweren
Drucke keine Spur zurückgelassen. Die Kriegslieder eines Arndt und Körner
und die melancholische Ode Manzonis auf den S. Mai -- darin liegt die ganze
Weite des Gegensatzes hüben und drüben.

Die gewaltige Durchschüttlung der Halberstorbenen Glieder der Halbinsel
war eine wohlthätige Krisis für den italienischen Nationalgeist gewesen. Dies
konnte freilich in jenen Tagen noch nicht empfunden werden, als nach einem
stürmevollen Wechsel von ausschweifendsten Hoffnungen und beschämendsten
Täuschungen, von inneren und auswärtigen Kriegen, von Staatenbildungen
und Staatenzertrümmerungen jedes Opfer nutzlos gebracht und nur düstre Klage
zurückzubleiben schien, die z. B. bei dem patriotischen Botta nur damit sich
tröstet, daß neben den vielen Schatten doch auch manche Lichter, unter dem
Chaos schmerzlicher Begebenheiten doch auch frohe und nützliche Ereignisse zu
verzeichnen seien. Aber später, belehrt durch die seitherigen Geschicke, durfte man
die Zeit der französischen Herrschaft in einem ungleich helleren Lichte erblicken.
Sie erschien als ein wesentlich förderndes Moment in der Geschichte der National¬
entwicklung, das man zumal von da an um so unbefangener würdigen konnte,
als der Nation wieder ein neuer Hoffnungsstern in einer ganz anderen Richtung
aufgegangen war. Farini, dessen Geschichtserzählung genau da beginnt, wo
Botta aufgehört hatte, war nichts weniger als ein Franzosenfreund; der Meinung,
daß man sich zur Erlangung der Unabhängigkeit auf Frankreich stützen müsse,
trat in der Krisis der Jahre 1848 und 49 niemand entschiedener entgegen als
er; auch läugnet er nicht die großen Uebel, welche die lange französische Herrschaft
in ihrem Gefolge hatte: das Hereinbrechen der fremden Sprache und des fremden
Volksgeistes, das Zurückbleiben der napoleonischen Polizei und Bureaukratie,
den durch die unaufhörlichen Wechselfälle geweckten Geist der Ungeduld, der den
bescheidenen Fortschritt verachtend auf den Zufall baut und sich in Projecten
gefällt. Dennoch behauptet er, die napoleonischen Kriege haben zur Vorbereitung
der nationalen Geschicke mehr gethan als die fünfzig vorangegangenen Friedens¬
jahre und die Reformen der Aufklärungszeit, von welchen er das kühle Urtheil
fällt: "weder die Regierungen noch die Völker erhoben sich zu jenen Ideen der


Grenzboten it. 18os. 62

reichs die Wiederkehr der alten Fremdherren zu fürchten. In Deutschland be¬
deutete die Herrschaft Napoleons die gewaltsame Unterdrückung des nationalen
Geistes, der sich nur aufraffte, um den Eroberer zu stürzen. In Italien hatte
sie umgekehrt das seit Jahrhunderten schlummernde nationale Gefühl geweckt
und ihm selbst eine gewisse Befriedigung gewährt. Man haßte den Bedrücker
und fühlte sich doch an seinen Siegeswagen gefesselt; man ersehnte seinen Fall
und zitterte doch den Folgen desselben entgegen. Stumm und kalt blieb daher
das Volk bei den süßen Worten Freiheit und Unabhängigkeit in den Prokla¬
mationen der Alliirten. Keine Volksbewegung unterstützte die Vertreibung der
Franzosen, in der Literatur hat die Befreiung von zwanzigjährigen schweren
Drucke keine Spur zurückgelassen. Die Kriegslieder eines Arndt und Körner
und die melancholische Ode Manzonis auf den S. Mai — darin liegt die ganze
Weite des Gegensatzes hüben und drüben.

Die gewaltige Durchschüttlung der Halberstorbenen Glieder der Halbinsel
war eine wohlthätige Krisis für den italienischen Nationalgeist gewesen. Dies
konnte freilich in jenen Tagen noch nicht empfunden werden, als nach einem
stürmevollen Wechsel von ausschweifendsten Hoffnungen und beschämendsten
Täuschungen, von inneren und auswärtigen Kriegen, von Staatenbildungen
und Staatenzertrümmerungen jedes Opfer nutzlos gebracht und nur düstre Klage
zurückzubleiben schien, die z. B. bei dem patriotischen Botta nur damit sich
tröstet, daß neben den vielen Schatten doch auch manche Lichter, unter dem
Chaos schmerzlicher Begebenheiten doch auch frohe und nützliche Ereignisse zu
verzeichnen seien. Aber später, belehrt durch die seitherigen Geschicke, durfte man
die Zeit der französischen Herrschaft in einem ungleich helleren Lichte erblicken.
Sie erschien als ein wesentlich förderndes Moment in der Geschichte der National¬
entwicklung, das man zumal von da an um so unbefangener würdigen konnte,
als der Nation wieder ein neuer Hoffnungsstern in einer ganz anderen Richtung
aufgegangen war. Farini, dessen Geschichtserzählung genau da beginnt, wo
Botta aufgehört hatte, war nichts weniger als ein Franzosenfreund; der Meinung,
daß man sich zur Erlangung der Unabhängigkeit auf Frankreich stützen müsse,
trat in der Krisis der Jahre 1848 und 49 niemand entschiedener entgegen als
er; auch läugnet er nicht die großen Uebel, welche die lange französische Herrschaft
in ihrem Gefolge hatte: das Hereinbrechen der fremden Sprache und des fremden
Volksgeistes, das Zurückbleiben der napoleonischen Polizei und Bureaukratie,
den durch die unaufhörlichen Wechselfälle geweckten Geist der Ungeduld, der den
bescheidenen Fortschritt verachtend auf den Zufall baut und sich in Projecten
gefällt. Dennoch behauptet er, die napoleonischen Kriege haben zur Vorbereitung
der nationalen Geschicke mehr gethan als die fünfzig vorangegangenen Friedens¬
jahre und die Reformen der Aufklärungszeit, von welchen er das kühle Urtheil
fällt: „weder die Regierungen noch die Völker erhoben sich zu jenen Ideen der


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[0439] reichs die Wiederkehr der alten Fremdherren zu fürchten. In Deutschland be¬ deutete die Herrschaft Napoleons die gewaltsame Unterdrückung des nationalen Geistes, der sich nur aufraffte, um den Eroberer zu stürzen. In Italien hatte sie umgekehrt das seit Jahrhunderten schlummernde nationale Gefühl geweckt und ihm selbst eine gewisse Befriedigung gewährt. Man haßte den Bedrücker und fühlte sich doch an seinen Siegeswagen gefesselt; man ersehnte seinen Fall und zitterte doch den Folgen desselben entgegen. Stumm und kalt blieb daher das Volk bei den süßen Worten Freiheit und Unabhängigkeit in den Prokla¬ mationen der Alliirten. Keine Volksbewegung unterstützte die Vertreibung der Franzosen, in der Literatur hat die Befreiung von zwanzigjährigen schweren Drucke keine Spur zurückgelassen. Die Kriegslieder eines Arndt und Körner und die melancholische Ode Manzonis auf den S. Mai — darin liegt die ganze Weite des Gegensatzes hüben und drüben. Die gewaltige Durchschüttlung der Halberstorbenen Glieder der Halbinsel war eine wohlthätige Krisis für den italienischen Nationalgeist gewesen. Dies konnte freilich in jenen Tagen noch nicht empfunden werden, als nach einem stürmevollen Wechsel von ausschweifendsten Hoffnungen und beschämendsten Täuschungen, von inneren und auswärtigen Kriegen, von Staatenbildungen und Staatenzertrümmerungen jedes Opfer nutzlos gebracht und nur düstre Klage zurückzubleiben schien, die z. B. bei dem patriotischen Botta nur damit sich tröstet, daß neben den vielen Schatten doch auch manche Lichter, unter dem Chaos schmerzlicher Begebenheiten doch auch frohe und nützliche Ereignisse zu verzeichnen seien. Aber später, belehrt durch die seitherigen Geschicke, durfte man die Zeit der französischen Herrschaft in einem ungleich helleren Lichte erblicken. Sie erschien als ein wesentlich förderndes Moment in der Geschichte der National¬ entwicklung, das man zumal von da an um so unbefangener würdigen konnte, als der Nation wieder ein neuer Hoffnungsstern in einer ganz anderen Richtung aufgegangen war. Farini, dessen Geschichtserzählung genau da beginnt, wo Botta aufgehört hatte, war nichts weniger als ein Franzosenfreund; der Meinung, daß man sich zur Erlangung der Unabhängigkeit auf Frankreich stützen müsse, trat in der Krisis der Jahre 1848 und 49 niemand entschiedener entgegen als er; auch läugnet er nicht die großen Uebel, welche die lange französische Herrschaft in ihrem Gefolge hatte: das Hereinbrechen der fremden Sprache und des fremden Volksgeistes, das Zurückbleiben der napoleonischen Polizei und Bureaukratie, den durch die unaufhörlichen Wechselfälle geweckten Geist der Ungeduld, der den bescheidenen Fortschritt verachtend auf den Zufall baut und sich in Projecten gefällt. Dennoch behauptet er, die napoleonischen Kriege haben zur Vorbereitung der nationalen Geschicke mehr gethan als die fünfzig vorangegangenen Friedens¬ jahre und die Reformen der Aufklärungszeit, von welchen er das kühle Urtheil fällt: „weder die Regierungen noch die Völker erhoben sich zu jenen Ideen der Grenzboten it. 18os. 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/439>, abgerufen am 16.05.2024.