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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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wäre, im Lear aber von vornherein gleich die Grundlage zu der Entfaltung einer
Welt der ausgeprägtesten Charaktere, gleich die Geburtsstätte der tragischesten Po-
tenzen angebahnt wäre. Wenn allerdings die groteske Gestaltung der Wirklichkeit
im Lear ganz anders ist. als woran unsere Anschauung gewöhnt sein mag. so
ist dieselbe sammt der sich aus ihr heraus ergebenden Entwicklung der Personen
und Umstände doch dramatisch so natürlich, als es der Boden der Nibelungen-
sage. und psychologisch so begreiflich, als es die Verwilderung der Charaktere
und Zustände in einer Revolution ist. Auch in Maß für Maß wird die in-
folge eines höchst absurden Gesetzes entstehende Verwicklung angefochten, als ob
nicht puritanischerseits ein solches Gesetz und der ganze Conflict, in den sich
die strenge Gesetzesvollstreckung verstricken könnte, ganz denkbar wäre. Wenn
sodann mit dem Verfasser in Cymbeline die Erscheinung Jupiters mit dem
Täfelchen und ähnliche Phantastik in Anspruch zu nehmen ist. so doch gewiß
nicht die Schürzung des Hauptknotens, die unbegreiflich sein sollende Leicht¬
gläubigkeit des PostHumus gegen Jachimo. PostHumus urtheilt, sobald er sich
in die Wette hineinziehen läßt, nimmer, wie bis daher, mit seinem irrthums¬
unfähigen Herzen, sondern mit seinem irrthumsfähigen Verstand und mit seinen
Sinnen; er ist. weil er sich auf eine sinnliche Probe einläßt, auf den ganz
äderen Boden des verständigen Prüfens und der objectiv giltigen Beweise über¬
getreten. Bei dem bekannten Mittel des Pater Lorenzo in Romeo und Julie,
welches das möglichst unnatürlichste sein soll, wäre doch vorher auszumachen,
ob dem Dichter nicht im Interesse der poetischen Verwerthung ein solcher tüch¬
tiger Hebel der Verwicklung zu gestatten sei; immerhin hätte auch bei den da¬
für von Herrn Rümelin namhaft gemachten Auskunstsmitteln der schlimme
Zufall und das jähe Naturell Nomeos denselben Strich durch die Rechnung
machen können, wie bei dem Rathschlag Lorenzos. Im Othello mag aller¬
dings die Bemerkung Desdemonas über Cassios Beförderung zu Othellos
Nachfolger, das vor dem tief durch diese Beförderung gekränkten Gemahl aus¬
gesprochene Wort: "Das freut mich" uns fast so sehr frappiren, wie den zunächst
Betroffenen; in dem Mund des arglos ihre wohlwollenden Gefühle für ihren
Schützling fortspinnendcn und jetzt endlich einmal hinsichtlich derselben befriedigten
Weibes ist es erklärlich. Eine charakterwidrige Unbesonnenheit vermögen wir
Jagos Benehmen am Schluß nicht zu finden. Er konnte sich, nachdem er
seine Mine gelegt hatte, nicht wohl mehr im Hintergrunde halten und mußte
bereits, nachdem Emilia seinen Verrath enthüllt hatte, weil er wirklich schon
bei der Erhitzung Othellos "Galgen und Rad" zu fürchten hatte, va wuque
spielen, konnte in der ganzen Anspannung der Verzweiflung, deren ja auch
der Abgefeimteste fähig ist, leicht zum drastischesten Mittel, seine Unschuld
zu erweisen, zum Erstechen seiner Frau greifen. Auch die Inconsequenz der
Lady Macbeth, zuerst ihren Mann zum abscheulichsten Verbrechen anzufeuern


wäre, im Lear aber von vornherein gleich die Grundlage zu der Entfaltung einer
Welt der ausgeprägtesten Charaktere, gleich die Geburtsstätte der tragischesten Po-
tenzen angebahnt wäre. Wenn allerdings die groteske Gestaltung der Wirklichkeit
im Lear ganz anders ist. als woran unsere Anschauung gewöhnt sein mag. so
ist dieselbe sammt der sich aus ihr heraus ergebenden Entwicklung der Personen
und Umstände doch dramatisch so natürlich, als es der Boden der Nibelungen-
sage. und psychologisch so begreiflich, als es die Verwilderung der Charaktere
und Zustände in einer Revolution ist. Auch in Maß für Maß wird die in-
folge eines höchst absurden Gesetzes entstehende Verwicklung angefochten, als ob
nicht puritanischerseits ein solches Gesetz und der ganze Conflict, in den sich
die strenge Gesetzesvollstreckung verstricken könnte, ganz denkbar wäre. Wenn
sodann mit dem Verfasser in Cymbeline die Erscheinung Jupiters mit dem
Täfelchen und ähnliche Phantastik in Anspruch zu nehmen ist. so doch gewiß
nicht die Schürzung des Hauptknotens, die unbegreiflich sein sollende Leicht¬
gläubigkeit des PostHumus gegen Jachimo. PostHumus urtheilt, sobald er sich
in die Wette hineinziehen läßt, nimmer, wie bis daher, mit seinem irrthums¬
unfähigen Herzen, sondern mit seinem irrthumsfähigen Verstand und mit seinen
Sinnen; er ist. weil er sich auf eine sinnliche Probe einläßt, auf den ganz
äderen Boden des verständigen Prüfens und der objectiv giltigen Beweise über¬
getreten. Bei dem bekannten Mittel des Pater Lorenzo in Romeo und Julie,
welches das möglichst unnatürlichste sein soll, wäre doch vorher auszumachen,
ob dem Dichter nicht im Interesse der poetischen Verwerthung ein solcher tüch¬
tiger Hebel der Verwicklung zu gestatten sei; immerhin hätte auch bei den da¬
für von Herrn Rümelin namhaft gemachten Auskunstsmitteln der schlimme
Zufall und das jähe Naturell Nomeos denselben Strich durch die Rechnung
machen können, wie bei dem Rathschlag Lorenzos. Im Othello mag aller¬
dings die Bemerkung Desdemonas über Cassios Beförderung zu Othellos
Nachfolger, das vor dem tief durch diese Beförderung gekränkten Gemahl aus¬
gesprochene Wort: „Das freut mich" uns fast so sehr frappiren, wie den zunächst
Betroffenen; in dem Mund des arglos ihre wohlwollenden Gefühle für ihren
Schützling fortspinnendcn und jetzt endlich einmal hinsichtlich derselben befriedigten
Weibes ist es erklärlich. Eine charakterwidrige Unbesonnenheit vermögen wir
Jagos Benehmen am Schluß nicht zu finden. Er konnte sich, nachdem er
seine Mine gelegt hatte, nicht wohl mehr im Hintergrunde halten und mußte
bereits, nachdem Emilia seinen Verrath enthüllt hatte, weil er wirklich schon
bei der Erhitzung Othellos „Galgen und Rad" zu fürchten hatte, va wuque
spielen, konnte in der ganzen Anspannung der Verzweiflung, deren ja auch
der Abgefeimteste fähig ist, leicht zum drastischesten Mittel, seine Unschuld
zu erweisen, zum Erstechen seiner Frau greifen. Auch die Inconsequenz der
Lady Macbeth, zuerst ihren Mann zum abscheulichsten Verbrechen anzufeuern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/59>, abgerufen am 29.05.2024.