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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Ruf. der dem Wuppertha! diesen Charakterzug zuschreibt. Es ist in der That
die ausgeprägteste Falte in seiner ganzen geistigen Physiognomie. Nirgends in
Deutschland nimmt der Geistliche durchweg die vornehme Stellung ein wie hier;
nirgends entwickelt die Kirche im täglichen Leben, und selbst in den politischen
Parteikämpfen der Gegenwart auch nur entfernt so viel Macht; nirgends sind
die religiösen Bestrebungen noch in gleichem Grade Volkssache, eine innerlich
empfundene Angelegenheit der Massen, wenn auch vielleicht nur einer kleinen
Majorität oder starken Minorität. Die dem neunzehnten Jahrhundert eigen¬
thümliche Vereinsbildung ist im Wupperthale zunächst und bis heute ganz über¬
wiegend in den Dienst der religiösen Interessen genommen worden. Die rhei¬
nisch-westfälische Missionsgesellschaft, welche Jahr aus Jahr ein lediglich aus
freiwilligen Gaben ungefähr 60,000 Thaler verwendet, ist hier entstanden und
hat hier in einem stattlichen Gebäude ihre centrale Bildungsanstalt. Seit 1814
arbeitet die bergische Bibelgesellschaft; und da diese seit 1834 darauf verfallen
ist, die heilige Schrift ohne die Apokryphen herauszugeben, so besteht jetzt neben
ihr die wupperthaler Bibelgesellschaft, welche sie mit den Apokryphen verbreitet.
Ebenfalls seit 1814 läßt die wupperthaler Tractatgesellschaft ihre religösen Flug-
blätter in die Welt wehen. Der Gustav-Adolph-Verein hat seit 1843 in Elber-
feld und Barmer Wurzel gefaßt. Die Evangelische Gesellschaft für Deutschland.
1848 in Elberfelo gegründet, sendet von hier ihre Reiseprediger und Colpor¬
teure kirchlicher Schriften aus. Auch die Pastoralhilfsgesellschasl für Rheinland
und Westfalen, welche für die Ausfüllung jeweiliger Lücken im Predigtamte
sorgte, hat hier ihren Sitz; desgleichen der Missionsverein für Israel, und die
Evangelische Gesellschaft für die protestantischen Deutschen in Nordamerika. Dazu
kommen dann noch die mehr örtlich beschränkten Vereine von religiöser Fär¬
bung, wie der Erziehungsverein, der Gefängnißverein, der Enthaltsamkeitsverein,
der Jünglingsverein, der Verein christlicher junger Kaufleute, der Frauen-
und Jungfrauenverein u. s. f. Diejenigen unter diesen Vereinen, welche ein
ständig offenes Local brauchen, finden dasselbe in Elberfeld schon seit einer
Reihe von Jahren, in Barmer demnächst ebenfalls in einem ihnen gewidmeten
eigenen Vereinshaus, das daneben wandernden Handwerksgesellen und ihres¬
gleichen eine gesunde. Physisch und moralisch saubere Schlafstelle darbietet. Die
meisten der aufgezählten Vereine feiern ihr Jahresfest gemeinschaftlich während
der im August oder September stattfindenden wupperthaler Festwoche, zu wel¬
cher regelmäßig von nah und fern zahlreiche gleichgesinnte Gäste eintreffen. Die
Elberfelder und Barmer ihrerseits bilden auf dem evangelischen Kirchentage und
ähnlichen kirchlich-religiösen Vereinigungen regelmäßig ein auffällig starkes und
hervortretendes Contingent.

Woher diese einseitig-ausschließliche Fülle eines sonst im modernen Leben
eher zurückgedrängten Triebes? Sie von der landschaftlichen Gestaltung oder


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Ruf. der dem Wuppertha! diesen Charakterzug zuschreibt. Es ist in der That
die ausgeprägteste Falte in seiner ganzen geistigen Physiognomie. Nirgends in
Deutschland nimmt der Geistliche durchweg die vornehme Stellung ein wie hier;
nirgends entwickelt die Kirche im täglichen Leben, und selbst in den politischen
Parteikämpfen der Gegenwart auch nur entfernt so viel Macht; nirgends sind
die religiösen Bestrebungen noch in gleichem Grade Volkssache, eine innerlich
empfundene Angelegenheit der Massen, wenn auch vielleicht nur einer kleinen
Majorität oder starken Minorität. Die dem neunzehnten Jahrhundert eigen¬
thümliche Vereinsbildung ist im Wupperthale zunächst und bis heute ganz über¬
wiegend in den Dienst der religiösen Interessen genommen worden. Die rhei¬
nisch-westfälische Missionsgesellschaft, welche Jahr aus Jahr ein lediglich aus
freiwilligen Gaben ungefähr 60,000 Thaler verwendet, ist hier entstanden und
hat hier in einem stattlichen Gebäude ihre centrale Bildungsanstalt. Seit 1814
arbeitet die bergische Bibelgesellschaft; und da diese seit 1834 darauf verfallen
ist, die heilige Schrift ohne die Apokryphen herauszugeben, so besteht jetzt neben
ihr die wupperthaler Bibelgesellschaft, welche sie mit den Apokryphen verbreitet.
Ebenfalls seit 1814 läßt die wupperthaler Tractatgesellschaft ihre religösen Flug-
blätter in die Welt wehen. Der Gustav-Adolph-Verein hat seit 1843 in Elber-
feld und Barmer Wurzel gefaßt. Die Evangelische Gesellschaft für Deutschland.
1848 in Elberfelo gegründet, sendet von hier ihre Reiseprediger und Colpor¬
teure kirchlicher Schriften aus. Auch die Pastoralhilfsgesellschasl für Rheinland
und Westfalen, welche für die Ausfüllung jeweiliger Lücken im Predigtamte
sorgte, hat hier ihren Sitz; desgleichen der Missionsverein für Israel, und die
Evangelische Gesellschaft für die protestantischen Deutschen in Nordamerika. Dazu
kommen dann noch die mehr örtlich beschränkten Vereine von religiöser Fär¬
bung, wie der Erziehungsverein, der Gefängnißverein, der Enthaltsamkeitsverein,
der Jünglingsverein, der Verein christlicher junger Kaufleute, der Frauen-
und Jungfrauenverein u. s. f. Diejenigen unter diesen Vereinen, welche ein
ständig offenes Local brauchen, finden dasselbe in Elberfeld schon seit einer
Reihe von Jahren, in Barmer demnächst ebenfalls in einem ihnen gewidmeten
eigenen Vereinshaus, das daneben wandernden Handwerksgesellen und ihres¬
gleichen eine gesunde. Physisch und moralisch saubere Schlafstelle darbietet. Die
meisten der aufgezählten Vereine feiern ihr Jahresfest gemeinschaftlich während
der im August oder September stattfindenden wupperthaler Festwoche, zu wel¬
cher regelmäßig von nah und fern zahlreiche gleichgesinnte Gäste eintreffen. Die
Elberfelder und Barmer ihrerseits bilden auf dem evangelischen Kirchentage und
ähnlichen kirchlich-religiösen Vereinigungen regelmäßig ein auffällig starkes und
hervortretendes Contingent.

Woher diese einseitig-ausschließliche Fülle eines sonst im modernen Leben
eher zurückgedrängten Triebes? Sie von der landschaftlichen Gestaltung oder


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/29>, abgerufen am 18.05.2024.