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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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deihliche Zusammenwirken der verschiedenen Elemente und brachten die baltischen
Deutschen um die Achtung ihrer neuen Beherrscher. Das Bollwerk des deut¬
schen Elements drohte zugleich die Zwingburg desselben zu werden, zumal so
lange der Adel nicht in die geistige Bewegung gezogen wurde, die sich in
Deutschland um die Mitte des Jahrhunderts zu regen begann und so lange
der Sohn aus adligen Hause keine andere Laufbahn für angemessen hielt als
die kriegerische. In den Jahren 1700--1747 gab es kaum eine europäische
Armee, in welcher nicht Livländer ihr Heil versucht hätten; während dieses
kurzen Zeitraums hat das kleine Land an der Ostsee nicht weniger als dreiund¬
zwanzig Feldmarschälle, zehn Generals en edel', siebenundzwanzig Generallieu-
tenants. vierunddreißig Generalmajors und dreiundfünfzig Obristen hervorge¬
bracht; die Namen einzelner derselben, wie des edlen Loudon, der die östreichi¬
sche Armee zu manchem Siege gegen den großen König ins Feld führte und
jenes Conrad Rosen, der unter Ludwig XIV. gegen den großen Oranier nach
Irland gesandt wurde, sind mit Ehren auf die Nachwelt gekommen.

? Erst in den sechziger Jahren machte sich ein entschiedener Umschwung zum
Bessern geltend, wurden ernsthafte Versuche zur Lösung der Aufgaben gemacht,
die seit Jahrzehnten auf ihre allendliche Lösung harrten. -- Nachdem der Ge¬
rechtigkeitssinn Peters des Großen das Unrecht der schwedischen Reduction
ausgeglichen und den Adel wieder in den Besitz seiner Güter gesetzt, desselben
Monarchen Einsicht die Richterstühle und Verwaltungsstellen auf den alten
Fuß gebracht hatte, zum erstenmale PostVerbindungen zwischen den einzelnen
Städten hergestellt waren, ein fünfzigjähriger Frieden den Sinn der Menschen
gemildert und daran gewöhnt hatte, über des kommenden Morgens gemeine
Sorgen hinauszusehen -- erwachte in den Enkeln der Letten- und Estenbezwin¬
ger das Bewußtsein der schweren Schuld, welche sie gegen diese Völker abzu¬
tragen hatten. Der Landrath Karl Friedrich Scholz, Freiherr v. Ascheladen
war es, der zuerst für das Recht des Bauernstandes eintrat und ^.rav 1763
im Namen der "retablirten Menschenrechte" eine freiwillige Beschränkung der
Leibeigenschaft vom livländischen Adel forderte; seine Mahnungen wurden freilich
mit Erbitterung zurückgew lesen, der Funken aber, den er in die Herzen der stol¬
zen Barone geworfen, war nicht mehr zu ersticken, zumal die Regierung Calha-
nnas II. sich der Sache annahm, und durch stets erneute Anträge auf Ver¬
minderung der bäuerlichen Lasten, das Gewissen des Adels wach erhielt. Der
Kampf um die Aushebung der Leibeigenschaft und die Emancipation des
Bauernstandes ist fortan der rothe Faden, der sich durch die Geschichte der
letzten hundert Jahre baltischen Lebens zieht. Nicht nur an der Staatsregierung
gewann die Sache der bäuerlichen Freiheit während der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts ni>im mächtigen Rückhalt, das Bürgerthum und die Geist-
Uchkeit nahmen energischen Antheil an denselben. Zumal in Riga, wo um jene


Brenzboten IV. 1867. 24

deihliche Zusammenwirken der verschiedenen Elemente und brachten die baltischen
Deutschen um die Achtung ihrer neuen Beherrscher. Das Bollwerk des deut¬
schen Elements drohte zugleich die Zwingburg desselben zu werden, zumal so
lange der Adel nicht in die geistige Bewegung gezogen wurde, die sich in
Deutschland um die Mitte des Jahrhunderts zu regen begann und so lange
der Sohn aus adligen Hause keine andere Laufbahn für angemessen hielt als
die kriegerische. In den Jahren 1700—1747 gab es kaum eine europäische
Armee, in welcher nicht Livländer ihr Heil versucht hätten; während dieses
kurzen Zeitraums hat das kleine Land an der Ostsee nicht weniger als dreiund¬
zwanzig Feldmarschälle, zehn Generals en edel', siebenundzwanzig Generallieu-
tenants. vierunddreißig Generalmajors und dreiundfünfzig Obristen hervorge¬
bracht; die Namen einzelner derselben, wie des edlen Loudon, der die östreichi¬
sche Armee zu manchem Siege gegen den großen König ins Feld führte und
jenes Conrad Rosen, der unter Ludwig XIV. gegen den großen Oranier nach
Irland gesandt wurde, sind mit Ehren auf die Nachwelt gekommen.

? Erst in den sechziger Jahren machte sich ein entschiedener Umschwung zum
Bessern geltend, wurden ernsthafte Versuche zur Lösung der Aufgaben gemacht,
die seit Jahrzehnten auf ihre allendliche Lösung harrten. — Nachdem der Ge¬
rechtigkeitssinn Peters des Großen das Unrecht der schwedischen Reduction
ausgeglichen und den Adel wieder in den Besitz seiner Güter gesetzt, desselben
Monarchen Einsicht die Richterstühle und Verwaltungsstellen auf den alten
Fuß gebracht hatte, zum erstenmale PostVerbindungen zwischen den einzelnen
Städten hergestellt waren, ein fünfzigjähriger Frieden den Sinn der Menschen
gemildert und daran gewöhnt hatte, über des kommenden Morgens gemeine
Sorgen hinauszusehen — erwachte in den Enkeln der Letten- und Estenbezwin¬
ger das Bewußtsein der schweren Schuld, welche sie gegen diese Völker abzu¬
tragen hatten. Der Landrath Karl Friedrich Scholz, Freiherr v. Ascheladen
war es, der zuerst für das Recht des Bauernstandes eintrat und ^.rav 1763
im Namen der „retablirten Menschenrechte" eine freiwillige Beschränkung der
Leibeigenschaft vom livländischen Adel forderte; seine Mahnungen wurden freilich
mit Erbitterung zurückgew lesen, der Funken aber, den er in die Herzen der stol¬
zen Barone geworfen, war nicht mehr zu ersticken, zumal die Regierung Calha-
nnas II. sich der Sache annahm, und durch stets erneute Anträge auf Ver¬
minderung der bäuerlichen Lasten, das Gewissen des Adels wach erhielt. Der
Kampf um die Aushebung der Leibeigenschaft und die Emancipation des
Bauernstandes ist fortan der rothe Faden, der sich durch die Geschichte der
letzten hundert Jahre baltischen Lebens zieht. Nicht nur an der Staatsregierung
gewann die Sache der bäuerlichen Freiheit während der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts ni>im mächtigen Rückhalt, das Bürgerthum und die Geist-
Uchkeit nahmen energischen Antheil an denselben. Zumal in Riga, wo um jene


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[0185] deihliche Zusammenwirken der verschiedenen Elemente und brachten die baltischen Deutschen um die Achtung ihrer neuen Beherrscher. Das Bollwerk des deut¬ schen Elements drohte zugleich die Zwingburg desselben zu werden, zumal so lange der Adel nicht in die geistige Bewegung gezogen wurde, die sich in Deutschland um die Mitte des Jahrhunderts zu regen begann und so lange der Sohn aus adligen Hause keine andere Laufbahn für angemessen hielt als die kriegerische. In den Jahren 1700—1747 gab es kaum eine europäische Armee, in welcher nicht Livländer ihr Heil versucht hätten; während dieses kurzen Zeitraums hat das kleine Land an der Ostsee nicht weniger als dreiund¬ zwanzig Feldmarschälle, zehn Generals en edel', siebenundzwanzig Generallieu- tenants. vierunddreißig Generalmajors und dreiundfünfzig Obristen hervorge¬ bracht; die Namen einzelner derselben, wie des edlen Loudon, der die östreichi¬ sche Armee zu manchem Siege gegen den großen König ins Feld führte und jenes Conrad Rosen, der unter Ludwig XIV. gegen den großen Oranier nach Irland gesandt wurde, sind mit Ehren auf die Nachwelt gekommen. ? Erst in den sechziger Jahren machte sich ein entschiedener Umschwung zum Bessern geltend, wurden ernsthafte Versuche zur Lösung der Aufgaben gemacht, die seit Jahrzehnten auf ihre allendliche Lösung harrten. — Nachdem der Ge¬ rechtigkeitssinn Peters des Großen das Unrecht der schwedischen Reduction ausgeglichen und den Adel wieder in den Besitz seiner Güter gesetzt, desselben Monarchen Einsicht die Richterstühle und Verwaltungsstellen auf den alten Fuß gebracht hatte, zum erstenmale PostVerbindungen zwischen den einzelnen Städten hergestellt waren, ein fünfzigjähriger Frieden den Sinn der Menschen gemildert und daran gewöhnt hatte, über des kommenden Morgens gemeine Sorgen hinauszusehen — erwachte in den Enkeln der Letten- und Estenbezwin¬ ger das Bewußtsein der schweren Schuld, welche sie gegen diese Völker abzu¬ tragen hatten. Der Landrath Karl Friedrich Scholz, Freiherr v. Ascheladen war es, der zuerst für das Recht des Bauernstandes eintrat und ^.rav 1763 im Namen der „retablirten Menschenrechte" eine freiwillige Beschränkung der Leibeigenschaft vom livländischen Adel forderte; seine Mahnungen wurden freilich mit Erbitterung zurückgew lesen, der Funken aber, den er in die Herzen der stol¬ zen Barone geworfen, war nicht mehr zu ersticken, zumal die Regierung Calha- nnas II. sich der Sache annahm, und durch stets erneute Anträge auf Ver¬ minderung der bäuerlichen Lasten, das Gewissen des Adels wach erhielt. Der Kampf um die Aushebung der Leibeigenschaft und die Emancipation des Bauernstandes ist fortan der rothe Faden, der sich durch die Geschichte der letzten hundert Jahre baltischen Lebens zieht. Nicht nur an der Staatsregierung gewann die Sache der bäuerlichen Freiheit während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ni>im mächtigen Rückhalt, das Bürgerthum und die Geist- Uchkeit nahmen energischen Antheil an denselben. Zumal in Riga, wo um jene Brenzboten IV. 1867. 24

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/185>, abgerufen am 21.05.2024.