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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band.

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lebens mit hineingezogen worden sind. Drei derselben Oesel, Nuno und Moon
gehören zu Livland, die übrigen, von denen nur Dcigo und Worms genannt
zu werden verdienen, bilden Theile Estlands und gehorchen dem chemischen Land-
"recht/) Begreiflicher Weise ist das deutsche Element hier schwächer vertreten
als auf dem Festlande: nur auf Oesel giebt es eine kleine Stadt, den Hafenort
Arensburg, auf den übrigen Eilanden besteht die deutsche Bevölkerung beinahe
ausschließlich aus adligen Gutsbesitzern und Predigern. Trotz seiner Zugehörig¬
keit zu Livland besitzt Oesel eine eigene, unabhängige Ritterschaft und ein
eignes Baucrngesetzbuch. Von Bildungseinflüssen durch das Meer abgeschnitten,
Von einem Adel beherrscht, der sich nur mühsam zum Verständniß der Neuzeit
durcharbeitet hat und dessen meist das Fischer- und Seefahrergewerbe betreibende
Bauern ärmer und verkommener sind, als die des Festlandes, bildet diese Insel
den mindest erfreulichen Theil des baltischen Landes: das Bürgerthum kommt hier
kaum in Betracht, die weniger zahlreichen Juristen, Lehrer, Kaufleute und Hand¬
werker Ahrensburgs sind von der Culturwelt so gut wie abgeschnitten. Aber
noch sehr viel isolirter sind die beiden kleinen Inseln Nuno und Moon, jene
von Schweden, diese von Ehlen bewohnt, unter denen der Pastor der einzige
Repräsentant deutscher Cultur ist. Da das Meer im Winter zufriert, oft
wochenlang kein Boot den "Sund" passiren kann und die Bewohner während dieser
Zeit von allem Verkehr mit dem Festlande und den größeren Nachbarinseln ab¬
geschnitten sind, kann der Prediger, zu Moon (auf Nuno ist der Geistliche
Schwede) Wohl der veisprengtcste Apostel deutschen Geisteslebens und deutscher
Bildung in Europa genannt werden. Nur während der kurzen Sommermonate
kommt er mit Männern seines Volks in Berührung, dringen Bücher und
Zeitungen in seine wogenumspühlte Wildniß. Und doch sind Schiller und
^v'the, Lessing und Humboldt in dem schlichten Pfarrhof dieser Insel ebenso
heimisch, wie im Herzen des reichen Mutterlandes, und doch wirkt der Greis,
der an diesen einsamen Vorposten gestellt ist, seit einen halben Jahrhundert in
bischer Kraft und freudigem Muth, für die civilisatorische Aufgabe, welche der
deutsche Stamm an der Ostsee übernommen hat und an der er sich nicht beirren
läßt, weder durch eine feindliche Natur, die den Menschen wie einen unberech¬
tigten Fremdling zurückzuscheuchen bestrebt ist, noch die Ungunst politischer Ver¬
hältnisse, die das 700jährige Herrscherrecht der Einwanderer immer wieder in
Trage stellen. "Wir gehorchen, aber wir bleiben stehen" ist die Antwort welche



. , J'l den drei Ostseeprovinzen herrschen nicht weniger als zehn verschiedene Privatrechte;
Ritter, und Landrechte, drei Staatsrechte (das Nevalsche auf Jndischer, das Nigasche auf
)"mburgischcr Grundlage ruhend), endlich vier Vanerrcchte (das Ocselsche ist von dem livl.
sondert), I" Suvsivinm gilt das gemeine römische Recht,
Gre.-.zboten IV. 18(i7. 29

lebens mit hineingezogen worden sind. Drei derselben Oesel, Nuno und Moon
gehören zu Livland, die übrigen, von denen nur Dcigo und Worms genannt
zu werden verdienen, bilden Theile Estlands und gehorchen dem chemischen Land-
«recht/) Begreiflicher Weise ist das deutsche Element hier schwächer vertreten
als auf dem Festlande: nur auf Oesel giebt es eine kleine Stadt, den Hafenort
Arensburg, auf den übrigen Eilanden besteht die deutsche Bevölkerung beinahe
ausschließlich aus adligen Gutsbesitzern und Predigern. Trotz seiner Zugehörig¬
keit zu Livland besitzt Oesel eine eigene, unabhängige Ritterschaft und ein
eignes Baucrngesetzbuch. Von Bildungseinflüssen durch das Meer abgeschnitten,
Von einem Adel beherrscht, der sich nur mühsam zum Verständniß der Neuzeit
durcharbeitet hat und dessen meist das Fischer- und Seefahrergewerbe betreibende
Bauern ärmer und verkommener sind, als die des Festlandes, bildet diese Insel
den mindest erfreulichen Theil des baltischen Landes: das Bürgerthum kommt hier
kaum in Betracht, die weniger zahlreichen Juristen, Lehrer, Kaufleute und Hand¬
werker Ahrensburgs sind von der Culturwelt so gut wie abgeschnitten. Aber
noch sehr viel isolirter sind die beiden kleinen Inseln Nuno und Moon, jene
von Schweden, diese von Ehlen bewohnt, unter denen der Pastor der einzige
Repräsentant deutscher Cultur ist. Da das Meer im Winter zufriert, oft
wochenlang kein Boot den „Sund" passiren kann und die Bewohner während dieser
Zeit von allem Verkehr mit dem Festlande und den größeren Nachbarinseln ab¬
geschnitten sind, kann der Prediger, zu Moon (auf Nuno ist der Geistliche
Schwede) Wohl der veisprengtcste Apostel deutschen Geisteslebens und deutscher
Bildung in Europa genannt werden. Nur während der kurzen Sommermonate
kommt er mit Männern seines Volks in Berührung, dringen Bücher und
Zeitungen in seine wogenumspühlte Wildniß. Und doch sind Schiller und
^v'the, Lessing und Humboldt in dem schlichten Pfarrhof dieser Insel ebenso
heimisch, wie im Herzen des reichen Mutterlandes, und doch wirkt der Greis,
der an diesen einsamen Vorposten gestellt ist, seit einen halben Jahrhundert in
bischer Kraft und freudigem Muth, für die civilisatorische Aufgabe, welche der
deutsche Stamm an der Ostsee übernommen hat und an der er sich nicht beirren
läßt, weder durch eine feindliche Natur, die den Menschen wie einen unberech¬
tigten Fremdling zurückzuscheuchen bestrebt ist, noch die Ungunst politischer Ver¬
hältnisse, die das 700jährige Herrscherrecht der Einwanderer immer wieder in
Trage stellen. „Wir gehorchen, aber wir bleiben stehen" ist die Antwort welche



. , J'l den drei Ostseeprovinzen herrschen nicht weniger als zehn verschiedene Privatrechte;
Ritter, und Landrechte, drei Staatsrechte (das Nevalsche auf Jndischer, das Nigasche auf
)»mburgischcr Grundlage ruhend), endlich vier Vanerrcchte (das Ocselsche ist von dem livl.
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[0225] lebens mit hineingezogen worden sind. Drei derselben Oesel, Nuno und Moon gehören zu Livland, die übrigen, von denen nur Dcigo und Worms genannt zu werden verdienen, bilden Theile Estlands und gehorchen dem chemischen Land- «recht/) Begreiflicher Weise ist das deutsche Element hier schwächer vertreten als auf dem Festlande: nur auf Oesel giebt es eine kleine Stadt, den Hafenort Arensburg, auf den übrigen Eilanden besteht die deutsche Bevölkerung beinahe ausschließlich aus adligen Gutsbesitzern und Predigern. Trotz seiner Zugehörig¬ keit zu Livland besitzt Oesel eine eigene, unabhängige Ritterschaft und ein eignes Baucrngesetzbuch. Von Bildungseinflüssen durch das Meer abgeschnitten, Von einem Adel beherrscht, der sich nur mühsam zum Verständniß der Neuzeit durcharbeitet hat und dessen meist das Fischer- und Seefahrergewerbe betreibende Bauern ärmer und verkommener sind, als die des Festlandes, bildet diese Insel den mindest erfreulichen Theil des baltischen Landes: das Bürgerthum kommt hier kaum in Betracht, die weniger zahlreichen Juristen, Lehrer, Kaufleute und Hand¬ werker Ahrensburgs sind von der Culturwelt so gut wie abgeschnitten. Aber noch sehr viel isolirter sind die beiden kleinen Inseln Nuno und Moon, jene von Schweden, diese von Ehlen bewohnt, unter denen der Pastor der einzige Repräsentant deutscher Cultur ist. Da das Meer im Winter zufriert, oft wochenlang kein Boot den „Sund" passiren kann und die Bewohner während dieser Zeit von allem Verkehr mit dem Festlande und den größeren Nachbarinseln ab¬ geschnitten sind, kann der Prediger, zu Moon (auf Nuno ist der Geistliche Schwede) Wohl der veisprengtcste Apostel deutschen Geisteslebens und deutscher Bildung in Europa genannt werden. Nur während der kurzen Sommermonate kommt er mit Männern seines Volks in Berührung, dringen Bücher und Zeitungen in seine wogenumspühlte Wildniß. Und doch sind Schiller und ^v'the, Lessing und Humboldt in dem schlichten Pfarrhof dieser Insel ebenso heimisch, wie im Herzen des reichen Mutterlandes, und doch wirkt der Greis, der an diesen einsamen Vorposten gestellt ist, seit einen halben Jahrhundert in bischer Kraft und freudigem Muth, für die civilisatorische Aufgabe, welche der deutsche Stamm an der Ostsee übernommen hat und an der er sich nicht beirren läßt, weder durch eine feindliche Natur, die den Menschen wie einen unberech¬ tigten Fremdling zurückzuscheuchen bestrebt ist, noch die Ungunst politischer Ver¬ hältnisse, die das 700jährige Herrscherrecht der Einwanderer immer wieder in Trage stellen. „Wir gehorchen, aber wir bleiben stehen" ist die Antwort welche . , J'l den drei Ostseeprovinzen herrschen nicht weniger als zehn verschiedene Privatrechte; Ritter, und Landrechte, drei Staatsrechte (das Nevalsche auf Jndischer, das Nigasche auf )»mburgischcr Grundlage ruhend), endlich vier Vanerrcchte (das Ocselsche ist von dem livl. sondert), I» Suvsivinm gilt das gemeine römische Recht, Gre.-.zboten IV. 18(i7. 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_349919/225>, abgerufen am 03.05.2024.