Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

leistet, sondern mit den Verhältnissen haben wir zu rechten. Der deutsche
Aristokrat kann Welt und Leute ebensogut kennen gelernt haben, wie der
Engländer, Italiener oder Franzose, er kann mit der junkerhaften Be¬
schränktheit seiner Standesgenossen vollständigste Abrechnung gehalten und die
ernstesten Versuche gemacht haben, sich auf jenen höheren Standpunkt zu
stellen, zu dem eine begünstigte sociale Stellung besonders befähigen -- so¬
lange er die Empfindung nicht los werden kann, vor Allem seine Gattung
repräsentiren zu müssen, gelingt es ihm nicht, in seines Volkes und der Fremden
Augen der geborene Repräsentant einer Nation zu sein. Es macht sich immer
wieder geltend, daß er nur in einem engen Kreise zu Hause, in der großen
Welt ein Fremdling ist, mag er die Sprache derselben noch so geläufig reden.
Zu Bemerkungen darüber, daß Advokaten, die Volksvertreter werden, gewöhn¬
lich Stellenjäger sind, daß "ältere gebildete Familien" sich auch in Deutsch¬
land leichter beim Adel, als bei anderen Ständen vorfinden, kommt man nur
in kleinen Verhältnissen und bei gelegentlicher Beschäftigung mit der Politik,
nicht aber, wenn man auf der Höhe eines großen Staats steht und in dessen
Leben die eigene Existenz sieht; daß die deutschen Kleinstaaten erst klein ge¬
worden sind, seit sie auf Eisenbahnen binnen wenigen Stunden durchflogen
werden können, mag vom Standpunkt des Kleinbürgers ganz richtig sein, für
in großen Verhältnissen aufgewachsene Politiker hat es dieses argumenwm
",<! Kominom schwerlich bedurft. Die Gewöhnung an einen kleinen Maßstab
beengt nicht nur das Urtheil über die nächste Umgebung, es verhindert zugleich
richtige Anschauungen über Zustände, welche größere Dimensionen haben: man
vergleiche die Urtheile, welche Custine und Sir Hamilton Seymour über Ru߬
land gefällt haben mit denen unseres Autors, der das Reich des Ostens gleich¬
falls aus direkter Anschauung kennt und durch seine Bemerkungen über den
russischen Gemeindebesitz deutlich bekundet, daß er an und sür sich wohl befähigt
gewesen wäre, die richtigen Gesichtspunkte für die Abschätzung russischer Zu¬
stände zu gewinnen.

Doch dieser Vergleich braucht nicht erst gezogen zu werden, damit wir
wissen, welches das Verhältniß unseres Volks zu denen ist, welche seine Füh¬
rer sein sollten. Das Buch des Grafen Münster mag uns vielmehr in dem
Bestreben unterstützen, jene Ausgleichung, welche das Jahr 1866 zwischen der
Partei des Bürgerthums und den Patrioten unter den Conservativen angebahnt
hat und von dessen Wirkungen die "Skizzen" mannigfaches Zeugniß ablegen,
eifriger denn je zu beschleunigen. Wird der in Wirklichkeit längst vorhandene
Verzicht unserer Aristokraten auf eine privilegirte Führerschaft der Nation zu
einem frei gewellten und anerkannten, geht der Adel in der Nation auf, so ist
nichts verloren und Anspruch und Maßstab, die an den Einzelnen gestellt werden,
werden hüben und drüben dieselben, in der praktischen Politik, wie in der Presse.




leistet, sondern mit den Verhältnissen haben wir zu rechten. Der deutsche
Aristokrat kann Welt und Leute ebensogut kennen gelernt haben, wie der
Engländer, Italiener oder Franzose, er kann mit der junkerhaften Be¬
schränktheit seiner Standesgenossen vollständigste Abrechnung gehalten und die
ernstesten Versuche gemacht haben, sich auf jenen höheren Standpunkt zu
stellen, zu dem eine begünstigte sociale Stellung besonders befähigen — so¬
lange er die Empfindung nicht los werden kann, vor Allem seine Gattung
repräsentiren zu müssen, gelingt es ihm nicht, in seines Volkes und der Fremden
Augen der geborene Repräsentant einer Nation zu sein. Es macht sich immer
wieder geltend, daß er nur in einem engen Kreise zu Hause, in der großen
Welt ein Fremdling ist, mag er die Sprache derselben noch so geläufig reden.
Zu Bemerkungen darüber, daß Advokaten, die Volksvertreter werden, gewöhn¬
lich Stellenjäger sind, daß „ältere gebildete Familien" sich auch in Deutsch¬
land leichter beim Adel, als bei anderen Ständen vorfinden, kommt man nur
in kleinen Verhältnissen und bei gelegentlicher Beschäftigung mit der Politik,
nicht aber, wenn man auf der Höhe eines großen Staats steht und in dessen
Leben die eigene Existenz sieht; daß die deutschen Kleinstaaten erst klein ge¬
worden sind, seit sie auf Eisenbahnen binnen wenigen Stunden durchflogen
werden können, mag vom Standpunkt des Kleinbürgers ganz richtig sein, für
in großen Verhältnissen aufgewachsene Politiker hat es dieses argumenwm
«,<! Kominom schwerlich bedurft. Die Gewöhnung an einen kleinen Maßstab
beengt nicht nur das Urtheil über die nächste Umgebung, es verhindert zugleich
richtige Anschauungen über Zustände, welche größere Dimensionen haben: man
vergleiche die Urtheile, welche Custine und Sir Hamilton Seymour über Ru߬
land gefällt haben mit denen unseres Autors, der das Reich des Ostens gleich¬
falls aus direkter Anschauung kennt und durch seine Bemerkungen über den
russischen Gemeindebesitz deutlich bekundet, daß er an und sür sich wohl befähigt
gewesen wäre, die richtigen Gesichtspunkte für die Abschätzung russischer Zu¬
stände zu gewinnen.

Doch dieser Vergleich braucht nicht erst gezogen zu werden, damit wir
wissen, welches das Verhältniß unseres Volks zu denen ist, welche seine Füh¬
rer sein sollten. Das Buch des Grafen Münster mag uns vielmehr in dem
Bestreben unterstützen, jene Ausgleichung, welche das Jahr 1866 zwischen der
Partei des Bürgerthums und den Patrioten unter den Conservativen angebahnt
hat und von dessen Wirkungen die „Skizzen" mannigfaches Zeugniß ablegen,
eifriger denn je zu beschleunigen. Wird der in Wirklichkeit längst vorhandene
Verzicht unserer Aristokraten auf eine privilegirte Führerschaft der Nation zu
einem frei gewellten und anerkannten, geht der Adel in der Nation auf, so ist
nichts verloren und Anspruch und Maßstab, die an den Einzelnen gestellt werden,
werden hüben und drüben dieselben, in der praktischen Politik, wie in der Presse.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0056" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/117062"/>
          <p xml:id="ID_156" prev="#ID_155"> leistet, sondern mit den Verhältnissen haben wir zu rechten. Der deutsche<lb/>
Aristokrat kann Welt und Leute ebensogut kennen gelernt haben, wie der<lb/>
Engländer, Italiener oder Franzose, er kann mit der junkerhaften Be¬<lb/>
schränktheit seiner Standesgenossen vollständigste Abrechnung gehalten und die<lb/>
ernstesten Versuche gemacht haben, sich auf jenen höheren Standpunkt zu<lb/>
stellen, zu dem eine begünstigte sociale Stellung besonders befähigen &#x2014; so¬<lb/>
lange er die Empfindung nicht los werden kann, vor Allem seine Gattung<lb/>
repräsentiren zu müssen, gelingt es ihm nicht, in seines Volkes und der Fremden<lb/>
Augen der geborene Repräsentant einer Nation zu sein. Es macht sich immer<lb/>
wieder geltend, daß er nur in einem engen Kreise zu Hause, in der großen<lb/>
Welt ein Fremdling ist, mag er die Sprache derselben noch so geläufig reden.<lb/>
Zu Bemerkungen darüber, daß Advokaten, die Volksvertreter werden, gewöhn¬<lb/>
lich Stellenjäger sind, daß &#x201E;ältere gebildete Familien" sich auch in Deutsch¬<lb/>
land leichter beim Adel, als bei anderen Ständen vorfinden, kommt man nur<lb/>
in kleinen Verhältnissen und bei gelegentlicher Beschäftigung mit der Politik,<lb/>
nicht aber, wenn man auf der Höhe eines großen Staats steht und in dessen<lb/>
Leben die eigene Existenz sieht; daß die deutschen Kleinstaaten erst klein ge¬<lb/>
worden sind, seit sie auf Eisenbahnen binnen wenigen Stunden durchflogen<lb/>
werden können, mag vom Standpunkt des Kleinbürgers ganz richtig sein, für<lb/>
in großen Verhältnissen aufgewachsene Politiker hat es dieses argumenwm<lb/>
«,&lt;! Kominom schwerlich bedurft. Die Gewöhnung an einen kleinen Maßstab<lb/>
beengt nicht nur das Urtheil über die nächste Umgebung, es verhindert zugleich<lb/>
richtige Anschauungen über Zustände, welche größere Dimensionen haben: man<lb/>
vergleiche die Urtheile, welche Custine und Sir Hamilton Seymour über Ru߬<lb/>
land gefällt haben mit denen unseres Autors, der das Reich des Ostens gleich¬<lb/>
falls aus direkter Anschauung kennt und durch seine Bemerkungen über den<lb/>
russischen Gemeindebesitz deutlich bekundet, daß er an und sür sich wohl befähigt<lb/>
gewesen wäre, die richtigen Gesichtspunkte für die Abschätzung russischer Zu¬<lb/>
stände zu gewinnen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_157"> Doch dieser Vergleich braucht nicht erst gezogen zu werden, damit wir<lb/>
wissen, welches das Verhältniß unseres Volks zu denen ist, welche seine Füh¬<lb/>
rer sein sollten. Das Buch des Grafen Münster mag uns vielmehr in dem<lb/>
Bestreben unterstützen, jene Ausgleichung, welche das Jahr 1866 zwischen der<lb/>
Partei des Bürgerthums und den Patrioten unter den Conservativen angebahnt<lb/>
hat und von dessen Wirkungen die &#x201E;Skizzen" mannigfaches Zeugniß ablegen,<lb/>
eifriger denn je zu beschleunigen. Wird der in Wirklichkeit längst vorhandene<lb/>
Verzicht unserer Aristokraten auf eine privilegirte Führerschaft der Nation zu<lb/>
einem frei gewellten und anerkannten, geht der Adel in der Nation auf, so ist<lb/>
nichts verloren und Anspruch und Maßstab, die an den Einzelnen gestellt werden,<lb/>
werden hüben und drüben dieselben, in der praktischen Politik, wie in der Presse.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0056] leistet, sondern mit den Verhältnissen haben wir zu rechten. Der deutsche Aristokrat kann Welt und Leute ebensogut kennen gelernt haben, wie der Engländer, Italiener oder Franzose, er kann mit der junkerhaften Be¬ schränktheit seiner Standesgenossen vollständigste Abrechnung gehalten und die ernstesten Versuche gemacht haben, sich auf jenen höheren Standpunkt zu stellen, zu dem eine begünstigte sociale Stellung besonders befähigen — so¬ lange er die Empfindung nicht los werden kann, vor Allem seine Gattung repräsentiren zu müssen, gelingt es ihm nicht, in seines Volkes und der Fremden Augen der geborene Repräsentant einer Nation zu sein. Es macht sich immer wieder geltend, daß er nur in einem engen Kreise zu Hause, in der großen Welt ein Fremdling ist, mag er die Sprache derselben noch so geläufig reden. Zu Bemerkungen darüber, daß Advokaten, die Volksvertreter werden, gewöhn¬ lich Stellenjäger sind, daß „ältere gebildete Familien" sich auch in Deutsch¬ land leichter beim Adel, als bei anderen Ständen vorfinden, kommt man nur in kleinen Verhältnissen und bei gelegentlicher Beschäftigung mit der Politik, nicht aber, wenn man auf der Höhe eines großen Staats steht und in dessen Leben die eigene Existenz sieht; daß die deutschen Kleinstaaten erst klein ge¬ worden sind, seit sie auf Eisenbahnen binnen wenigen Stunden durchflogen werden können, mag vom Standpunkt des Kleinbürgers ganz richtig sein, für in großen Verhältnissen aufgewachsene Politiker hat es dieses argumenwm «,<! Kominom schwerlich bedurft. Die Gewöhnung an einen kleinen Maßstab beengt nicht nur das Urtheil über die nächste Umgebung, es verhindert zugleich richtige Anschauungen über Zustände, welche größere Dimensionen haben: man vergleiche die Urtheile, welche Custine und Sir Hamilton Seymour über Ru߬ land gefällt haben mit denen unseres Autors, der das Reich des Ostens gleich¬ falls aus direkter Anschauung kennt und durch seine Bemerkungen über den russischen Gemeindebesitz deutlich bekundet, daß er an und sür sich wohl befähigt gewesen wäre, die richtigen Gesichtspunkte für die Abschätzung russischer Zu¬ stände zu gewinnen. Doch dieser Vergleich braucht nicht erst gezogen zu werden, damit wir wissen, welches das Verhältniß unseres Volks zu denen ist, welche seine Füh¬ rer sein sollten. Das Buch des Grafen Münster mag uns vielmehr in dem Bestreben unterstützen, jene Ausgleichung, welche das Jahr 1866 zwischen der Partei des Bürgerthums und den Patrioten unter den Conservativen angebahnt hat und von dessen Wirkungen die „Skizzen" mannigfaches Zeugniß ablegen, eifriger denn je zu beschleunigen. Wird der in Wirklichkeit längst vorhandene Verzicht unserer Aristokraten auf eine privilegirte Führerschaft der Nation zu einem frei gewellten und anerkannten, geht der Adel in der Nation auf, so ist nichts verloren und Anspruch und Maßstab, die an den Einzelnen gestellt werden, werden hüben und drüben dieselben, in der praktischen Politik, wie in der Presse.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/56
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_117005/56>, abgerufen am 18.05.2024.