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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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Mängel entdeckt und verschiedene Wünsche ausspricht, so entstammen jene
großentheils nur der unabwendbaren Natur eines Handbuches und finden
diese ihre Erklärung in dem Umstände, daß eine solche allumfassende Ueber¬
sicht erst durch wiederholte Bearbeitungen, schrittweise und allmählich der Voll¬
endung sich nähern kann. Die erheblichste Schwierigkeit bei dem Abfassen
eines Handbuches der Kunstgeschichte liegt in der Unvereinbarkeit zweier gleich
wesentlicher Eigenschaften: der Vollständigkeit und der einheitlichen Methode.
Die meisten Leser würden den Ausschluß der altorientalischen Kunst ver¬
missen und doch kann diese nicht in der gleichen Weise behandelt werden wie
die antike und christliche Kunst. Nur hier sind wir im Stande, eine zu¬
sammenhängende Entwickelung nachzuweisen, nur hier tritt uns ein Werden,
ein wirkliches Schicksal entgegen, während uns in der altorientalischen Kunst
Alles in eine Ebene gezeichnet erscheint, wir uns bei der unsicheren Chrono¬
logie, der mangelhaften schriftlichen Kunde mit der Schilderung eines gleich¬
sam zeitlosen Zustandes begnügen müssen. In dem einen Falle nähren wir
die historische Erkenntniß, in dem anderen befriedigen wir höchstens die Neu¬
gierde. Vollends rathlos stehen wir den Kunstbestrebungen barbarischer und
halbcivilisirter Völker gegenüber. Die Forderung einer vollständigen Wieder¬
gabe des historischen Materials duldet nicht ein Auslassen derselben, jeder
Versuch, sie zu classificiren und einzuordnen, erweckt aber mannigfache Be¬
denken. Kugler, dem wir überhaupt die Systematik der Kunstgeschichte ver¬
danken, half sich, indem er die verschiedenen Ansätze zur Kunstübung bei den
Celten, Mexikanern :c. als Vorstufen an den Anfang der Kunstgeschichte setzte;
dadurch wird aber leicht der falsche Schein geweckt, als ob dieselben nothwen¬
dige Durchgangsstufen der Kunstbildung überhaupt wären, und als ob auf
die Volksindividualität und das ethnographische Element nicht genügende Rück¬
sicht genommen wäre. Gewiß läßt sich die Frage nach dem Ursprung und
den Anfängen der Kunst nicht umgehen. Sie wird sich aber kaum auf an¬
dere Art lösen lassen, als indem man auf dem Wege der Combination die
ersten Vorgänge des künstlerischen Geistes zu errathen sich bemüht und den
psychologischen Proceß, der das künstlerische Schaffen bedingt, sich aber der
historischen Erfahrung entzieht, zu reconstruiren wagt. Das Ornament, das
älter ist als die figürliche Nachbildung und die architektonische Gliederung,
dürste dabei die wichtigste Rolle spielen und den Hauptgegenstand der Erörte¬
rung der Nachweis darüber bilden, wie aus dem mechanischen Vorgange des
Knüpfens, Aneinanderreihens, Flechtens u. s. w. die einfachsten und natür¬
lichsten ornamentalen Elemente hervorgehen, die dann selbständig entwickelt
werden, zuerst Plastik und Architektur überwuchern, bis diese durch die Be¬
obachtung zunächst einzelner Naturerscheinungen, später der allgemeinen Natur-
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Mängel entdeckt und verschiedene Wünsche ausspricht, so entstammen jene
großentheils nur der unabwendbaren Natur eines Handbuches und finden
diese ihre Erklärung in dem Umstände, daß eine solche allumfassende Ueber¬
sicht erst durch wiederholte Bearbeitungen, schrittweise und allmählich der Voll¬
endung sich nähern kann. Die erheblichste Schwierigkeit bei dem Abfassen
eines Handbuches der Kunstgeschichte liegt in der Unvereinbarkeit zweier gleich
wesentlicher Eigenschaften: der Vollständigkeit und der einheitlichen Methode.
Die meisten Leser würden den Ausschluß der altorientalischen Kunst ver¬
missen und doch kann diese nicht in der gleichen Weise behandelt werden wie
die antike und christliche Kunst. Nur hier sind wir im Stande, eine zu¬
sammenhängende Entwickelung nachzuweisen, nur hier tritt uns ein Werden,
ein wirkliches Schicksal entgegen, während uns in der altorientalischen Kunst
Alles in eine Ebene gezeichnet erscheint, wir uns bei der unsicheren Chrono¬
logie, der mangelhaften schriftlichen Kunde mit der Schilderung eines gleich¬
sam zeitlosen Zustandes begnügen müssen. In dem einen Falle nähren wir
die historische Erkenntniß, in dem anderen befriedigen wir höchstens die Neu¬
gierde. Vollends rathlos stehen wir den Kunstbestrebungen barbarischer und
halbcivilisirter Völker gegenüber. Die Forderung einer vollständigen Wieder¬
gabe des historischen Materials duldet nicht ein Auslassen derselben, jeder
Versuch, sie zu classificiren und einzuordnen, erweckt aber mannigfache Be¬
denken. Kugler, dem wir überhaupt die Systematik der Kunstgeschichte ver¬
danken, half sich, indem er die verschiedenen Ansätze zur Kunstübung bei den
Celten, Mexikanern :c. als Vorstufen an den Anfang der Kunstgeschichte setzte;
dadurch wird aber leicht der falsche Schein geweckt, als ob dieselben nothwen¬
dige Durchgangsstufen der Kunstbildung überhaupt wären, und als ob auf
die Volksindividualität und das ethnographische Element nicht genügende Rück¬
sicht genommen wäre. Gewiß läßt sich die Frage nach dem Ursprung und
den Anfängen der Kunst nicht umgehen. Sie wird sich aber kaum auf an¬
dere Art lösen lassen, als indem man auf dem Wege der Combination die
ersten Vorgänge des künstlerischen Geistes zu errathen sich bemüht und den
psychologischen Proceß, der das künstlerische Schaffen bedingt, sich aber der
historischen Erfahrung entzieht, zu reconstruiren wagt. Das Ornament, das
älter ist als die figürliche Nachbildung und die architektonische Gliederung,
dürste dabei die wichtigste Rolle spielen und den Hauptgegenstand der Erörte¬
rung der Nachweis darüber bilden, wie aus dem mechanischen Vorgange des
Knüpfens, Aneinanderreihens, Flechtens u. s. w. die einfachsten und natür¬
lichsten ornamentalen Elemente hervorgehen, die dann selbständig entwickelt
werden, zuerst Plastik und Architektur überwuchern, bis diese durch die Be¬
obachtung zunächst einzelner Naturerscheinungen, später der allgemeinen Natur-
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/163>, abgerufen am 18.05.2024.