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Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band.

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und die Straßen binnen weniger Stunden überschwemmt, weil das Wasser
längs dem AbHange Fall hat und sich tiefe Schluchten ausgräbt. -- Be-
merkenswert!) ist noch die große elektrische Kraft der Luft; die leichteste Be-
rührung an Tuch oder Wolle gab Funken und Knistern. Das Klima war gesund,
die Vegetationskraft des Landes ungewöhnlich zu nennen, denn binnen 3 Wochen,
vom Juni, wo die Nachtfröste aufhören, bis Ende Juli, wo sie wieder an¬
fangen, reifen Korn und Gemüse. Von letzterem. waren viele Gattungen in
dieser Gegend unbekannt; einer meiner Kameraden war der Erste, der hier
selbst Gurken (im Freien) und Melonen (in Mistbeeten) zog.

Berühmt ist das Thal von Tschita durch seine Flora, um welcher willen
man diese Gegend den "Garten von Sibirien" nennt. Gewisse Gattungen
der Lilie, der Iris und verschiedene Zwiebelgewächse habe ich nirgend schöner
gesehen. -- Die Zahl der Einwohner des Dorfes, in dem wir lebten, betrug
kaum 300; sie sind" arm wie alle Bergwerksbauern. Sie wohnten in kleinen
Häusern, auf welche ein e baufällige hölzerne Kirche trübselig heruntersah, und
ernährten sich vom Ackerbau und einem Fischfang, der in der Jngoda und
im Ononsee ergiebig ist. Das Land gehörte der Krone, die es den Bauern
anwies; dafür waren diese zum Brennen von Kohlen verpflichtet, welche sie
zu Wasser in die Bergwerke von Nertschinsk schiffen mußten. Bis zu unserer
Ankunst bildete die einzige Civilautorität des Orts ein Bergwerksbeamter,
Smolläninow, der uns während der ersten vier Monate unseres Aufenthal¬
tes für unsere eigene Rechnung beköstigte; die Krone gab uns Brot und
zahlte außerdem täglich zwei Kopeken Kupfer (etwa 2 Pfennige preußisch)
für jeden Mann. In den drei Jahren und sechs Monaten, die wir in
Tschita verlebten, erhielt dieser Ort eine völlig neue Gestalt sowohl durch
viele neue Gebäude als durch die neuen Gäste, die eine bedeutende Zahl von
Militärbehörden und Wachen in ihrem Gefolge hatten. Bei unserer An¬
kunft zählte Tschita 26 Hütten und drei ordentliche Häuser, die der Berg¬
werksbeamte, der Commandant und der Platzmajor einnahmen.

Anfangs lebten nur 30 von uns Staatsverbrechern in Tschita; 8 unserer
Kameraden waren gleich nach Vollstreckung der Sentenz in die Bergwerke von
Nertschinsk zur Zwangsarbeit abgefertigt worden, die Uebrigen saßen noch in den
Festungen von Schlüsselburg und auf den Alandsinseln. All' diese Verur.
theilten wurden im August 1827 mit uns vereinigt, als der Bau eines
größeren Gefängnisses vollendet war, das uns Alle aufnehmen konnte. Bis
zu unserer Vereinigung lebten wir, die zuerst in Tschita Angelangten, in
zwei befestigten Bauernhäusern und kamen nur bei der Arbeit zusammen.
Als wir das Fundament zum neuen Gefängnisse und die tiefen Gräben zur
Umzäunung desselben ausgegraben hatten, ließ man uns eine tiefe Schlucht
hart an der Hauptstraße mit Erde und Sand ausfüllen. Diese Schlucht


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und die Straßen binnen weniger Stunden überschwemmt, weil das Wasser
längs dem AbHange Fall hat und sich tiefe Schluchten ausgräbt. — Be-
merkenswert!) ist noch die große elektrische Kraft der Luft; die leichteste Be-
rührung an Tuch oder Wolle gab Funken und Knistern. Das Klima war gesund,
die Vegetationskraft des Landes ungewöhnlich zu nennen, denn binnen 3 Wochen,
vom Juni, wo die Nachtfröste aufhören, bis Ende Juli, wo sie wieder an¬
fangen, reifen Korn und Gemüse. Von letzterem. waren viele Gattungen in
dieser Gegend unbekannt; einer meiner Kameraden war der Erste, der hier
selbst Gurken (im Freien) und Melonen (in Mistbeeten) zog.

Berühmt ist das Thal von Tschita durch seine Flora, um welcher willen
man diese Gegend den „Garten von Sibirien" nennt. Gewisse Gattungen
der Lilie, der Iris und verschiedene Zwiebelgewächse habe ich nirgend schöner
gesehen. — Die Zahl der Einwohner des Dorfes, in dem wir lebten, betrug
kaum 300; sie sind» arm wie alle Bergwerksbauern. Sie wohnten in kleinen
Häusern, auf welche ein e baufällige hölzerne Kirche trübselig heruntersah, und
ernährten sich vom Ackerbau und einem Fischfang, der in der Jngoda und
im Ononsee ergiebig ist. Das Land gehörte der Krone, die es den Bauern
anwies; dafür waren diese zum Brennen von Kohlen verpflichtet, welche sie
zu Wasser in die Bergwerke von Nertschinsk schiffen mußten. Bis zu unserer
Ankunst bildete die einzige Civilautorität des Orts ein Bergwerksbeamter,
Smolläninow, der uns während der ersten vier Monate unseres Aufenthal¬
tes für unsere eigene Rechnung beköstigte; die Krone gab uns Brot und
zahlte außerdem täglich zwei Kopeken Kupfer (etwa 2 Pfennige preußisch)
für jeden Mann. In den drei Jahren und sechs Monaten, die wir in
Tschita verlebten, erhielt dieser Ort eine völlig neue Gestalt sowohl durch
viele neue Gebäude als durch die neuen Gäste, die eine bedeutende Zahl von
Militärbehörden und Wachen in ihrem Gefolge hatten. Bei unserer An¬
kunft zählte Tschita 26 Hütten und drei ordentliche Häuser, die der Berg¬
werksbeamte, der Commandant und der Platzmajor einnahmen.

Anfangs lebten nur 30 von uns Staatsverbrechern in Tschita; 8 unserer
Kameraden waren gleich nach Vollstreckung der Sentenz in die Bergwerke von
Nertschinsk zur Zwangsarbeit abgefertigt worden, die Uebrigen saßen noch in den
Festungen von Schlüsselburg und auf den Alandsinseln. All' diese Verur.
theilten wurden im August 1827 mit uns vereinigt, als der Bau eines
größeren Gefängnisses vollendet war, das uns Alle aufnehmen konnte. Bis
zu unserer Vereinigung lebten wir, die zuerst in Tschita Angelangten, in
zwei befestigten Bauernhäusern und kamen nur bei der Arbeit zusammen.
Als wir das Fundament zum neuen Gefängnisse und die tiefen Gräben zur
Umzäunung desselben ausgegraben hatten, ließ man uns eine tiefe Schlucht
hart an der Hauptstraße mit Erde und Sand ausfüllen. Diese Schlucht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 27, 1868, II. Semester. II Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341807_287271/323>, abgerufen am 18.05.2024.