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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band.

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des Verhältnisses, in welchem der König und der Kronprinz zu ihren Frauen
stehen. Die Schuld daran trägt allerdings nicht Varnhagen allein. In den
Jahren, während welcher er die beiden ersten Bände schrieb, war die Ver¬
fassungsfrage noch nicht entschieden, schwankte der König noch zwischen dem
Kampf der Parteien, ließ sich noch etwas hoffen und fürchten, gewann die
einzelne Anekdote als Symptom der herrschenden Stimmung oder als eines
der Gewichte, die in die Wagschale der königlichen Entscheidung geworfen
werden konnten, typische Bedeutung. Dieser Stoff lag für die späteren "Blätter"
nicht mehr vor.

1824 und 1823 ist es so gut wie ausgemacht, daß so lange Friedrich
Wilhelm III. König von Preußen ist. Alles beim Alten bleibt, in Fragen
der großen Politik Metternich und Kaiser Alexander die Orakel sind, nach
dem man sich zu richten hat, die innere Entwickelung stille steht und mit der
Tradition des patriarchalischen Regiments auszukommen sucht. Dieses Thema
wird denn auch zum Ueberdruß variirt: der Reihe nach werden die Rath¬
geber des Königs vorgenommen und verurtheilt -- nicht selten in ziemlich
schablonenmäßiger Weise. Varnhagens politisches Urtheil ist auch, wo es sich
nicht um Personen, sondern um Sachen handelt, nichts weniger als sicher
und von den Tagesmeinungen unabhängig, für Entwickelungen und Fort¬
schritte, die nicht im liberalen Parteikatechtsmus stehen, hat er nicht mehr
und nicht weniger Verständniß als andere Leute. Bezeichnend ist schon, daß
er sich um eigentlich technische Fragen viel weniger kümmert, als um Wechsel¬
fälle in der Diplomatie oder höheren Bureaukratie. Die Verhandlungen
über die Begründung der Nationalbank interessiren ihn nicht entfernt so lebhaft
als die einzelnen Belohnungen, welche Kamptz zu Theil werden, die Dumm¬
heiten des Gesandten v. Küster in München oder die unbedeutensten Vorgänge
in der französischen oder einer süddeutschen Kammer. Er selbst hat gar keine
Meinung über das Bankproject, fondern begnügt sich mit Berichten darüber
was gelegentlich Herr v. Rothschild, der Kronprinz oder Fürst Wittgenstein für
und wider dieselbe gesagt haben. Vom Zollverein ist mit keinem Wort die
Rede, der wichtige Handels- und Zollvertrag mit Rußland wird auch nur
im Vorübergehen erwähnt, die Personen, welche mit der Leitung der einzelnen
Zweige des Finanz- und Handelswesens betraut sind, kommen nicht nach
ihrer Brauchbarkeit, sondern einzig darnach in Betracht, ob und wie sie zum
konstitutionellen System stehen.

Es versteht sich von selbst, daß neben der großen Masse von Gleich-
giltigem. Unwürdigem und blos Zufälligen, was zwischen die Blätter dieses
Buchs gelegt worden, manche interessante und lehrreiche Einzelzüge mitunter
laufen. Schon daß man erfährt, wie die laufenden Ereignisse und Erschei¬
nungen ihrer Zeit in der preußischen Hauptstadt aufgefaßt und angesehen


des Verhältnisses, in welchem der König und der Kronprinz zu ihren Frauen
stehen. Die Schuld daran trägt allerdings nicht Varnhagen allein. In den
Jahren, während welcher er die beiden ersten Bände schrieb, war die Ver¬
fassungsfrage noch nicht entschieden, schwankte der König noch zwischen dem
Kampf der Parteien, ließ sich noch etwas hoffen und fürchten, gewann die
einzelne Anekdote als Symptom der herrschenden Stimmung oder als eines
der Gewichte, die in die Wagschale der königlichen Entscheidung geworfen
werden konnten, typische Bedeutung. Dieser Stoff lag für die späteren „Blätter"
nicht mehr vor.

1824 und 1823 ist es so gut wie ausgemacht, daß so lange Friedrich
Wilhelm III. König von Preußen ist. Alles beim Alten bleibt, in Fragen
der großen Politik Metternich und Kaiser Alexander die Orakel sind, nach
dem man sich zu richten hat, die innere Entwickelung stille steht und mit der
Tradition des patriarchalischen Regiments auszukommen sucht. Dieses Thema
wird denn auch zum Ueberdruß variirt: der Reihe nach werden die Rath¬
geber des Königs vorgenommen und verurtheilt — nicht selten in ziemlich
schablonenmäßiger Weise. Varnhagens politisches Urtheil ist auch, wo es sich
nicht um Personen, sondern um Sachen handelt, nichts weniger als sicher
und von den Tagesmeinungen unabhängig, für Entwickelungen und Fort¬
schritte, die nicht im liberalen Parteikatechtsmus stehen, hat er nicht mehr
und nicht weniger Verständniß als andere Leute. Bezeichnend ist schon, daß
er sich um eigentlich technische Fragen viel weniger kümmert, als um Wechsel¬
fälle in der Diplomatie oder höheren Bureaukratie. Die Verhandlungen
über die Begründung der Nationalbank interessiren ihn nicht entfernt so lebhaft
als die einzelnen Belohnungen, welche Kamptz zu Theil werden, die Dumm¬
heiten des Gesandten v. Küster in München oder die unbedeutensten Vorgänge
in der französischen oder einer süddeutschen Kammer. Er selbst hat gar keine
Meinung über das Bankproject, fondern begnügt sich mit Berichten darüber
was gelegentlich Herr v. Rothschild, der Kronprinz oder Fürst Wittgenstein für
und wider dieselbe gesagt haben. Vom Zollverein ist mit keinem Wort die
Rede, der wichtige Handels- und Zollvertrag mit Rußland wird auch nur
im Vorübergehen erwähnt, die Personen, welche mit der Leitung der einzelnen
Zweige des Finanz- und Handelswesens betraut sind, kommen nicht nach
ihrer Brauchbarkeit, sondern einzig darnach in Betracht, ob und wie sie zum
konstitutionellen System stehen.

Es versteht sich von selbst, daß neben der großen Masse von Gleich-
giltigem. Unwürdigem und blos Zufälligen, was zwischen die Blätter dieses
Buchs gelegt worden, manche interessante und lehrreiche Einzelzüge mitunter
laufen. Schon daß man erfährt, wie die laufenden Ereignisse und Erschei¬
nungen ihrer Zeit in der preußischen Hauptstadt aufgefaßt und angesehen


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[0286] des Verhältnisses, in welchem der König und der Kronprinz zu ihren Frauen stehen. Die Schuld daran trägt allerdings nicht Varnhagen allein. In den Jahren, während welcher er die beiden ersten Bände schrieb, war die Ver¬ fassungsfrage noch nicht entschieden, schwankte der König noch zwischen dem Kampf der Parteien, ließ sich noch etwas hoffen und fürchten, gewann die einzelne Anekdote als Symptom der herrschenden Stimmung oder als eines der Gewichte, die in die Wagschale der königlichen Entscheidung geworfen werden konnten, typische Bedeutung. Dieser Stoff lag für die späteren „Blätter" nicht mehr vor. 1824 und 1823 ist es so gut wie ausgemacht, daß so lange Friedrich Wilhelm III. König von Preußen ist. Alles beim Alten bleibt, in Fragen der großen Politik Metternich und Kaiser Alexander die Orakel sind, nach dem man sich zu richten hat, die innere Entwickelung stille steht und mit der Tradition des patriarchalischen Regiments auszukommen sucht. Dieses Thema wird denn auch zum Ueberdruß variirt: der Reihe nach werden die Rath¬ geber des Königs vorgenommen und verurtheilt — nicht selten in ziemlich schablonenmäßiger Weise. Varnhagens politisches Urtheil ist auch, wo es sich nicht um Personen, sondern um Sachen handelt, nichts weniger als sicher und von den Tagesmeinungen unabhängig, für Entwickelungen und Fort¬ schritte, die nicht im liberalen Parteikatechtsmus stehen, hat er nicht mehr und nicht weniger Verständniß als andere Leute. Bezeichnend ist schon, daß er sich um eigentlich technische Fragen viel weniger kümmert, als um Wechsel¬ fälle in der Diplomatie oder höheren Bureaukratie. Die Verhandlungen über die Begründung der Nationalbank interessiren ihn nicht entfernt so lebhaft als die einzelnen Belohnungen, welche Kamptz zu Theil werden, die Dumm¬ heiten des Gesandten v. Küster in München oder die unbedeutensten Vorgänge in der französischen oder einer süddeutschen Kammer. Er selbst hat gar keine Meinung über das Bankproject, fondern begnügt sich mit Berichten darüber was gelegentlich Herr v. Rothschild, der Kronprinz oder Fürst Wittgenstein für und wider dieselbe gesagt haben. Vom Zollverein ist mit keinem Wort die Rede, der wichtige Handels- und Zollvertrag mit Rußland wird auch nur im Vorübergehen erwähnt, die Personen, welche mit der Leitung der einzelnen Zweige des Finanz- und Handelswesens betraut sind, kommen nicht nach ihrer Brauchbarkeit, sondern einzig darnach in Betracht, ob und wie sie zum konstitutionellen System stehen. Es versteht sich von selbst, daß neben der großen Masse von Gleich- giltigem. Unwürdigem und blos Zufälligen, was zwischen die Blätter dieses Buchs gelegt worden, manche interessante und lehrreiche Einzelzüge mitunter laufen. Schon daß man erfährt, wie die laufenden Ereignisse und Erschei¬ nungen ihrer Zeit in der preußischen Hauptstadt aufgefaßt und angesehen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_120192/286>, abgerufen am 21.05.2024.