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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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der Geschichte der Wissenschaften an: Heinrich Christian, der berühmte Reichshof¬
rath, an ausgebreiteter Gelehrsamkeit dem größten deutschen Publicisten seiner
Zeit, dem älteren Moser. gleich, an Gründlichkeit und Tiefe ihm weit über¬
legen und an menschlichem Werthe gewiß nicht unter diesem seinem Rivalen;
Johann Christian, der zweite der Senckenbergischen Brüder, ist weltbekannt
als Begründer der Senckenbergischen Stiftungen, die sür die Pflege der
Medicin und Naturwissenschaften in Deutschland sich die größten Verdienste
erworben haben. Beide sind es werth, als Männer der Wissenschaft auch in
unseren Tagen gekannt und dargestellt zu werden. Aber darauf hat es ihr
Biograph nicht abgesehen, obwohl er selbstverständlich auch diese Seite ihres
Wesens sorgsam beachtet. Als der gründlichste Kenner der Frankfurter Local-
geschichte, nicht blos deshalb weil er das Stadtarchiv berufsmäßig wie kein
anderer kennt und benutzt, sondern auch, weil ihm bei umfassender und ge¬
diegener historischer Bildung doch die Erforschung der heimathlichen Geschichte
zur alleinigen Lebensaufgabe geworden ist, gibt er hier im biographischen
Rahmen ein gutes Stück Culturgeschichte seiner Heimath. Es wird uns dar¬
aus die Kenntniß des Bodens, der so eigenthümliches Gebilde, wie jene
Goethe'schen "Drei Thesen" erzeugte, in oft überraschender Weise erschlossen.
Derselbe Boden hat gleichzeitig auch Goethe selbst erzeugt und insofern hat
die allgemeine deutsche Culturgeschichte ein vorzügliches Interesse sich mit
seiner Erforschung zu beschäftigen. Mag auch Goethe selbst nicht andere
Notiz genommen haben von diesen Senckenbergischen Brüdern als von einer
stattlichen Reihe anderer Originalgenies oder seltsamer Figuren seiner Jugend¬
erinnerung, so ist es doch unsere Sache zu wissen, daß ein und derselbe
Boden ein und dieselbe Flora trägt, und daß auch ein Goethe ein Kind
seiner Erde ist. Die genetische Einsicht in das Jugendwesen des Dichters
erhält aus diese Art mindestens ebensoviel Förderung als durch die Mit¬
theilung seiner frühesten literarischen Versuche, ja in gewissem Sinne noch
größere als durch dergleichen Reliquien, denen doch immer etwas Zufälliges
und sporadisches anklebt.

Aber noch von anderer Seite her ist aus dem Buche viel zu lernen und
zwar, wie hoffentlich viele bedünken wird, Wichtigeres als was zum Verständ¬
niß Goethe's gehört. Für das innerste Wesen des Frankfurter Volksgeistes
im vorigen Jahrhundert gibt es keine lehrreichere Darstellung als diese, die
sich ganz von selbst zu einer Geschichte der socialen und politischen Zustände
der Stadt während der Lebenszeit der Brüder S. gestaltet. Frankfurt war
unzweifelhaft damals, wie schon im Laufe des ganzen 17. Jahrhunderts der
für die innere Gestaltung des süddeutschen Volksgeistes wichtigste Ort, in
diesem Sinne die natürliche Hauptstadt des ganzen Westens und Südens
unseres Vaterlands, soweit diese Theile nicht überhaupt sich ganz passiv und


Grenjboten IV. 1869. 42

der Geschichte der Wissenschaften an: Heinrich Christian, der berühmte Reichshof¬
rath, an ausgebreiteter Gelehrsamkeit dem größten deutschen Publicisten seiner
Zeit, dem älteren Moser. gleich, an Gründlichkeit und Tiefe ihm weit über¬
legen und an menschlichem Werthe gewiß nicht unter diesem seinem Rivalen;
Johann Christian, der zweite der Senckenbergischen Brüder, ist weltbekannt
als Begründer der Senckenbergischen Stiftungen, die sür die Pflege der
Medicin und Naturwissenschaften in Deutschland sich die größten Verdienste
erworben haben. Beide sind es werth, als Männer der Wissenschaft auch in
unseren Tagen gekannt und dargestellt zu werden. Aber darauf hat es ihr
Biograph nicht abgesehen, obwohl er selbstverständlich auch diese Seite ihres
Wesens sorgsam beachtet. Als der gründlichste Kenner der Frankfurter Local-
geschichte, nicht blos deshalb weil er das Stadtarchiv berufsmäßig wie kein
anderer kennt und benutzt, sondern auch, weil ihm bei umfassender und ge¬
diegener historischer Bildung doch die Erforschung der heimathlichen Geschichte
zur alleinigen Lebensaufgabe geworden ist, gibt er hier im biographischen
Rahmen ein gutes Stück Culturgeschichte seiner Heimath. Es wird uns dar¬
aus die Kenntniß des Bodens, der so eigenthümliches Gebilde, wie jene
Goethe'schen „Drei Thesen" erzeugte, in oft überraschender Weise erschlossen.
Derselbe Boden hat gleichzeitig auch Goethe selbst erzeugt und insofern hat
die allgemeine deutsche Culturgeschichte ein vorzügliches Interesse sich mit
seiner Erforschung zu beschäftigen. Mag auch Goethe selbst nicht andere
Notiz genommen haben von diesen Senckenbergischen Brüdern als von einer
stattlichen Reihe anderer Originalgenies oder seltsamer Figuren seiner Jugend¬
erinnerung, so ist es doch unsere Sache zu wissen, daß ein und derselbe
Boden ein und dieselbe Flora trägt, und daß auch ein Goethe ein Kind
seiner Erde ist. Die genetische Einsicht in das Jugendwesen des Dichters
erhält aus diese Art mindestens ebensoviel Förderung als durch die Mit¬
theilung seiner frühesten literarischen Versuche, ja in gewissem Sinne noch
größere als durch dergleichen Reliquien, denen doch immer etwas Zufälliges
und sporadisches anklebt.

Aber noch von anderer Seite her ist aus dem Buche viel zu lernen und
zwar, wie hoffentlich viele bedünken wird, Wichtigeres als was zum Verständ¬
niß Goethe's gehört. Für das innerste Wesen des Frankfurter Volksgeistes
im vorigen Jahrhundert gibt es keine lehrreichere Darstellung als diese, die
sich ganz von selbst zu einer Geschichte der socialen und politischen Zustände
der Stadt während der Lebenszeit der Brüder S. gestaltet. Frankfurt war
unzweifelhaft damals, wie schon im Laufe des ganzen 17. Jahrhunderts der
für die innere Gestaltung des süddeutschen Volksgeistes wichtigste Ort, in
diesem Sinne die natürliche Hauptstadt des ganzen Westens und Südens
unseres Vaterlands, soweit diese Theile nicht überhaupt sich ganz passiv und


Grenjboten IV. 1869. 42
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[0337] der Geschichte der Wissenschaften an: Heinrich Christian, der berühmte Reichshof¬ rath, an ausgebreiteter Gelehrsamkeit dem größten deutschen Publicisten seiner Zeit, dem älteren Moser. gleich, an Gründlichkeit und Tiefe ihm weit über¬ legen und an menschlichem Werthe gewiß nicht unter diesem seinem Rivalen; Johann Christian, der zweite der Senckenbergischen Brüder, ist weltbekannt als Begründer der Senckenbergischen Stiftungen, die sür die Pflege der Medicin und Naturwissenschaften in Deutschland sich die größten Verdienste erworben haben. Beide sind es werth, als Männer der Wissenschaft auch in unseren Tagen gekannt und dargestellt zu werden. Aber darauf hat es ihr Biograph nicht abgesehen, obwohl er selbstverständlich auch diese Seite ihres Wesens sorgsam beachtet. Als der gründlichste Kenner der Frankfurter Local- geschichte, nicht blos deshalb weil er das Stadtarchiv berufsmäßig wie kein anderer kennt und benutzt, sondern auch, weil ihm bei umfassender und ge¬ diegener historischer Bildung doch die Erforschung der heimathlichen Geschichte zur alleinigen Lebensaufgabe geworden ist, gibt er hier im biographischen Rahmen ein gutes Stück Culturgeschichte seiner Heimath. Es wird uns dar¬ aus die Kenntniß des Bodens, der so eigenthümliches Gebilde, wie jene Goethe'schen „Drei Thesen" erzeugte, in oft überraschender Weise erschlossen. Derselbe Boden hat gleichzeitig auch Goethe selbst erzeugt und insofern hat die allgemeine deutsche Culturgeschichte ein vorzügliches Interesse sich mit seiner Erforschung zu beschäftigen. Mag auch Goethe selbst nicht andere Notiz genommen haben von diesen Senckenbergischen Brüdern als von einer stattlichen Reihe anderer Originalgenies oder seltsamer Figuren seiner Jugend¬ erinnerung, so ist es doch unsere Sache zu wissen, daß ein und derselbe Boden ein und dieselbe Flora trägt, und daß auch ein Goethe ein Kind seiner Erde ist. Die genetische Einsicht in das Jugendwesen des Dichters erhält aus diese Art mindestens ebensoviel Förderung als durch die Mit¬ theilung seiner frühesten literarischen Versuche, ja in gewissem Sinne noch größere als durch dergleichen Reliquien, denen doch immer etwas Zufälliges und sporadisches anklebt. Aber noch von anderer Seite her ist aus dem Buche viel zu lernen und zwar, wie hoffentlich viele bedünken wird, Wichtigeres als was zum Verständ¬ niß Goethe's gehört. Für das innerste Wesen des Frankfurter Volksgeistes im vorigen Jahrhundert gibt es keine lehrreichere Darstellung als diese, die sich ganz von selbst zu einer Geschichte der socialen und politischen Zustände der Stadt während der Lebenszeit der Brüder S. gestaltet. Frankfurt war unzweifelhaft damals, wie schon im Laufe des ganzen 17. Jahrhunderts der für die innere Gestaltung des süddeutschen Volksgeistes wichtigste Ort, in diesem Sinne die natürliche Hauptstadt des ganzen Westens und Südens unseres Vaterlands, soweit diese Theile nicht überhaupt sich ganz passiv und Grenjboten IV. 1869. 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/337>, abgerufen am 13.05.2024.