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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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und für Rußland ein partieller Umschwung in der inneren Politik, der zwar
wenig beachtet worden, aber darum nicht minder wichtig ist. Unbeantwortet
ist dagegen die schon seit Monaten aufgeworfene Frage nach dem Ausgang
des Conflicts zwischen dem Sultan und dem Vicekönige von Aegypten ge¬
blieben -- der vielen großen Zeitfragen nicht zu gedenken, deren Lösung,
was den Zeitpunkt anlangt, überhaupt unberechenbar ist. -- Die Physiog¬
nomie des Welttheils hat sich nicht sichtlich verändert; auf der Stirn des¬
selben läßt sich nicht besser lesen, als vor vier Wochen. Wohl hat es den
Anschein, als ob die alten Gruppen -- hüben Preußen und Rußland, drüben
Oestreich und Frankreich -- nicht mehr so fest zusammen stehen, wie in den
Jahren, welche der großen Katastrophe von 1866 folgten, aber von neuen
Configurationen ist noch nichts zu spüren und die leichtblütigen Journale,
welche Frankreich bereits in den Armen Rußlands sehen, beziehen ihre Nach¬
richten entweder aus Hitzing oder aus dem Schubfach der von der professio¬
nellen Conjecturalpolitik aufgespeicherten Möglichkeiten.

Frankreich, oder richtiger gesagt, Paris hat seit Jahren nicht so be¬
wegte Tage gesehen, wie die, welche den letzten Nachwahlen vorhergingen.
Alles, was sich seit zwanzig Jahren an politischer Jungenhaftigkeit, radicalen
Phrasenkram und thörichter Ueberstürzung angesammelt hatte, kam bei Ge¬
legenheit der Rochefort'schen Wahlcandidatur auf die Oberfläche des Pariser
Lebens und die verschiedenen radicalen Candidaten suchten sich in Ma߬
losigkeiten zu überbieten. Das Resultat ist gewesen, daß der ungefährlichste
und unwürdigste der Socialrepublikaner, die um die Vertretung des ersten
Pariser Wahlbezirks stritten, zu den Thüren des gesetzgebenden Körpers ein¬
gegangen ist und sechs Jahre lang die Freiheit haben wird, die liberale
Partei bei jeder ihm gutdünkenden Gelegenheit zu compromittiren, den
Granier und Jerome David in die Hände zu arbeiten. Freilich ist noch
nicht ausgemacht, was aus dieser liberalen Partei selbst wird und ob sie sich
gehörig zu constituiren und eine lebensfähige parlamentarische Regierung zu
ermöglichen im Stande sein werde. Emil Ollivier's Stellung zum linken
Centrum ist in ein bedenkliches Schwanken gekommen und von den Gliedern
der alten Tiörs-Fraction ist dieser Mann der einzige, dem man das Zeug
zum practischen Staatsmann zutraut. Noch steht es so, daß der Kaiser die
gesammte Executive fest in seiner Hand hält und daß die republikanischen
Elemente nur nöthig haben, die Partei der gemäßigten Liberalen über den
Haufen zu rennen, um Napoleon zu einem Rückzüge aus der beschrittenen
constitutionellen Bahn die Brücke zu bauen. Die Präsumtion spricht gegen
die Wahrscheinlichkeit jener Versöhnung zwischen Ordnung und Freiheit,
welche die Thronrede als Pfand für weitere Concessionen verlangte und trotz
all' der Wellen, welche die Hochflut!) des Pariser Wahlkampfs getrieben hat,


und für Rußland ein partieller Umschwung in der inneren Politik, der zwar
wenig beachtet worden, aber darum nicht minder wichtig ist. Unbeantwortet
ist dagegen die schon seit Monaten aufgeworfene Frage nach dem Ausgang
des Conflicts zwischen dem Sultan und dem Vicekönige von Aegypten ge¬
blieben — der vielen großen Zeitfragen nicht zu gedenken, deren Lösung,
was den Zeitpunkt anlangt, überhaupt unberechenbar ist. — Die Physiog¬
nomie des Welttheils hat sich nicht sichtlich verändert; auf der Stirn des¬
selben läßt sich nicht besser lesen, als vor vier Wochen. Wohl hat es den
Anschein, als ob die alten Gruppen — hüben Preußen und Rußland, drüben
Oestreich und Frankreich — nicht mehr so fest zusammen stehen, wie in den
Jahren, welche der großen Katastrophe von 1866 folgten, aber von neuen
Configurationen ist noch nichts zu spüren und die leichtblütigen Journale,
welche Frankreich bereits in den Armen Rußlands sehen, beziehen ihre Nach¬
richten entweder aus Hitzing oder aus dem Schubfach der von der professio¬
nellen Conjecturalpolitik aufgespeicherten Möglichkeiten.

Frankreich, oder richtiger gesagt, Paris hat seit Jahren nicht so be¬
wegte Tage gesehen, wie die, welche den letzten Nachwahlen vorhergingen.
Alles, was sich seit zwanzig Jahren an politischer Jungenhaftigkeit, radicalen
Phrasenkram und thörichter Ueberstürzung angesammelt hatte, kam bei Ge¬
legenheit der Rochefort'schen Wahlcandidatur auf die Oberfläche des Pariser
Lebens und die verschiedenen radicalen Candidaten suchten sich in Ma߬
losigkeiten zu überbieten. Das Resultat ist gewesen, daß der ungefährlichste
und unwürdigste der Socialrepublikaner, die um die Vertretung des ersten
Pariser Wahlbezirks stritten, zu den Thüren des gesetzgebenden Körpers ein¬
gegangen ist und sechs Jahre lang die Freiheit haben wird, die liberale
Partei bei jeder ihm gutdünkenden Gelegenheit zu compromittiren, den
Granier und Jerome David in die Hände zu arbeiten. Freilich ist noch
nicht ausgemacht, was aus dieser liberalen Partei selbst wird und ob sie sich
gehörig zu constituiren und eine lebensfähige parlamentarische Regierung zu
ermöglichen im Stande sein werde. Emil Ollivier's Stellung zum linken
Centrum ist in ein bedenkliches Schwanken gekommen und von den Gliedern
der alten Tiörs-Fraction ist dieser Mann der einzige, dem man das Zeug
zum practischen Staatsmann zutraut. Noch steht es so, daß der Kaiser die
gesammte Executive fest in seiner Hand hält und daß die republikanischen
Elemente nur nöthig haben, die Partei der gemäßigten Liberalen über den
Haufen zu rennen, um Napoleon zu einem Rückzüge aus der beschrittenen
constitutionellen Bahn die Brücke zu bauen. Die Präsumtion spricht gegen
die Wahrscheinlichkeit jener Versöhnung zwischen Ordnung und Freiheit,
welche die Thronrede als Pfand für weitere Concessionen verlangte und trotz
all' der Wellen, welche die Hochflut!) des Pariser Wahlkampfs getrieben hat,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/436>, abgerufen am 13.05.2024.