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Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band.

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Die Frage, ob diese Kundgebung auch ohne die Provokationen der
Moskaner nationalen und den deutsch-östreichischen Amel-nationalen erfolgt
wäre, entzieht sich natürlich der Untersuchung; zweifellos ist, daß ihre Deut¬
lichkeit dem verfrühten Triumphgeschret dieser Verbündeten, die eine Klar¬
legung der Situation erzWangen , wesentlich verpflichtet ist. Daß der Sieg
ein vollständiger ist, haben die letzten Tage auss Nachdrücklichste bestätigt.
Das Petersburger Minister-Comite' hat dem Grafen Lehnsdorf soeben die
Concession zum Bau jener Lyk-Bjelostoker Eisenbahn ertheilt, über welche seit
Jahren verhandelt worden ist und deren Hinderung die Moskausche Zeitung
mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln versucht hatte. Die Entscheidung
dieser Streitfrage ist in politischer Beziehung mindestens ebenso wichtig wie
in kommerzieller, denn an ihr haben sich die Kräfte der europäisch gesinnten
russischen Politiker und der moskowitischen Preußenfeinde seit Jahren
gemessen: dem jetzt erfochtenen Siege der Ersteren waren zwei Niederlagen
vorhergegangen. -- Die praktische Bedeutung dieses endlich zu Stande
gekommenen Schienenwegs besteht bekanntlich darin, daß die ostpreußi¬
schen Hafenstädte (namentlich Königsberg) von dem westrussischen Export¬
handel nicht ganz ausgeschlossen sein werden. Was von den militärischen
Vortheilen gesagt wird, welche diese Bahn Preußen bieten und die ihm die
Möglichkeit bieten sollen, an die wichtigsten Punkte Westrußlands zu jeder
Zeit Truppenmassen werfen zu können, beruht auf Uebertreibungen und ist
durch die Thatsache der Concessionsertheilung widerlegt.

Daß die Beziehungen Preußens zu Rußland unverändert die früheren ge¬
blieben sind, ist auf das zweite diplomatische Ereigniß des Monats, die Aus¬
gleichung der Zwistigkeiten zwischen dem Padischah und seinem mächtigen ägyp¬
tischen Vasallen nicht ohne Einfluß gewesen. Die Partei, welche auf ein russi¬
sches Bündniß mit Frankreich hinarbeitet, vertritt zugleich den Gedanken einer
Wiederaufnahme der orientalischen Politik von 1853 und hält es für Pflicht,
jede Gelegenheit zur Schwächung und Auflösung des osmanischen Reichs aus¬
zunutzen. Beide Ziele stehen mit der russischen Nationaltradition in zu engem
Zusammenhange, als daß ihre Streichung von dem Programm der Peters¬
burger Staatsmänner denkbar wäre und die jüngste Niederlage, welche die
Moskaner Actionspartei erlitten, wird nur dazu führen. Entschiedenheit und
Zusammenhalt derselben zu kräftigen. Nach dem, was wir in den letzten
Jahren erlebt haben, erscheint der Sieg der gemäßigten Partei in der litthaui-
schen Frage überhaupt als bloße Episode und wie die Nachrichten aus den Ostsee¬
provinzen bekunden, hat sie schon keine allgemeine Bedeutung. Prävaliren in der
inneren Politik die nationalen und demokratischen Elemente wieder, so kann eine
Rückwirkung auf die äußere Politik, namentlich auf die Beziehungen zu Preußen
und auf die Behandlung der orientalischen Angelegenheiten für die Dauer nicht
ausbleiben, zumal die Tage des Fürsten Gortschakow gezählt sind.


Die Frage, ob diese Kundgebung auch ohne die Provokationen der
Moskaner nationalen und den deutsch-östreichischen Amel-nationalen erfolgt
wäre, entzieht sich natürlich der Untersuchung; zweifellos ist, daß ihre Deut¬
lichkeit dem verfrühten Triumphgeschret dieser Verbündeten, die eine Klar¬
legung der Situation erzWangen , wesentlich verpflichtet ist. Daß der Sieg
ein vollständiger ist, haben die letzten Tage auss Nachdrücklichste bestätigt.
Das Petersburger Minister-Comite' hat dem Grafen Lehnsdorf soeben die
Concession zum Bau jener Lyk-Bjelostoker Eisenbahn ertheilt, über welche seit
Jahren verhandelt worden ist und deren Hinderung die Moskausche Zeitung
mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln versucht hatte. Die Entscheidung
dieser Streitfrage ist in politischer Beziehung mindestens ebenso wichtig wie
in kommerzieller, denn an ihr haben sich die Kräfte der europäisch gesinnten
russischen Politiker und der moskowitischen Preußenfeinde seit Jahren
gemessen: dem jetzt erfochtenen Siege der Ersteren waren zwei Niederlagen
vorhergegangen. — Die praktische Bedeutung dieses endlich zu Stande
gekommenen Schienenwegs besteht bekanntlich darin, daß die ostpreußi¬
schen Hafenstädte (namentlich Königsberg) von dem westrussischen Export¬
handel nicht ganz ausgeschlossen sein werden. Was von den militärischen
Vortheilen gesagt wird, welche diese Bahn Preußen bieten und die ihm die
Möglichkeit bieten sollen, an die wichtigsten Punkte Westrußlands zu jeder
Zeit Truppenmassen werfen zu können, beruht auf Uebertreibungen und ist
durch die Thatsache der Concessionsertheilung widerlegt.

Daß die Beziehungen Preußens zu Rußland unverändert die früheren ge¬
blieben sind, ist auf das zweite diplomatische Ereigniß des Monats, die Aus¬
gleichung der Zwistigkeiten zwischen dem Padischah und seinem mächtigen ägyp¬
tischen Vasallen nicht ohne Einfluß gewesen. Die Partei, welche auf ein russi¬
sches Bündniß mit Frankreich hinarbeitet, vertritt zugleich den Gedanken einer
Wiederaufnahme der orientalischen Politik von 1853 und hält es für Pflicht,
jede Gelegenheit zur Schwächung und Auflösung des osmanischen Reichs aus¬
zunutzen. Beide Ziele stehen mit der russischen Nationaltradition in zu engem
Zusammenhange, als daß ihre Streichung von dem Programm der Peters¬
burger Staatsmänner denkbar wäre und die jüngste Niederlage, welche die
Moskaner Actionspartei erlitten, wird nur dazu führen. Entschiedenheit und
Zusammenhalt derselben zu kräftigen. Nach dem, was wir in den letzten
Jahren erlebt haben, erscheint der Sieg der gemäßigten Partei in der litthaui-
schen Frage überhaupt als bloße Episode und wie die Nachrichten aus den Ostsee¬
provinzen bekunden, hat sie schon keine allgemeine Bedeutung. Prävaliren in der
inneren Politik die nationalen und demokratischen Elemente wieder, so kann eine
Rückwirkung auf die äußere Politik, namentlich auf die Beziehungen zu Preußen
und auf die Behandlung der orientalischen Angelegenheiten für die Dauer nicht
ausbleiben, zumal die Tage des Fürsten Gortschakow gezählt sind.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 28, 1869, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341809_121754/490>, abgerufen am 11.05.2024.