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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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Herr Camphausen zerriß durch seine erste Rede mit einem Schlage dieses
trügerische Gewebe des Pessimismus; er zeigte, daß von einem eigentlichen
Deficit keine Rede sei, wenn die Fehlsumme kaum SV2 MM. betrage, gleich¬
zeitig der Staat aber 8^ Mill. auf Tilgung seiner Schulden verwende -- von
dem diese Schuldenmasse weit übersteigenden Capitalvermögen gar nicht ein¬
mal zu reden. Gleichwohl bestand für den Augenblick das Deficit, weil man
sich bet Contrahirung der Schuld zur Amortisation im gedachten Betrage
verbindlich gemacht hatte. Neue Steuern und Zuschlage wollte man nicht,
Steuerreformen, welche der Minister schon im Auge zu haben erklärte, konn¬
ten nur langsam wirken, es blieb also nur übrig, im Wege des freiwilligen
Uebereinkommens mit den Staatsgläubigern sich dahin zu verständigen, daß
dieselben auf eine Tilgung in dem genannten Maße verzichteten. Dieser
Weg war um so richtiger, als ganz abgesehen vom Deficit, die bisherige Til¬
gungsart dem Staatstnteresse widersprach. Es ist einer der ersten Grund¬
sätze der Finanzwirthschaft, daß man Schulden nur mit überschüssigen Ein¬
nahmen bezahlen kann; demzufolge mußte es als handgreiflicher Widersinn
gelten, wenn der Staat nicht blos mit einer Hand alte Schulden abbezahlt
und mit der anderen neue macht, sondern für die neu-contrahirten mehr
Zinsen zahlt, als er für die alten gab, z. B. Schuldscheine, die 92 stehen, zu
Voll einlöst und dann wieder zu 91 bringt. Der Price'sche Sophismus von
der wunderbar wirkenden Kraft des Sinking-Fond ist längst widerlegt und
es ist unbegreiflich, daß Virchow darauf zurückkommmen konnte. Eine wirk¬
liche Tilgung von Schulden fand 1820--48 in Preußen statt, wo keine
neuen gemacht und 40 Mill. abbezahlt wurden. Von 1848--67 ging die
Tilgung fort, so daß 101 Mill. eingelöst wurden, aber in derselben Zeit
wurden 233 Mill. neue Schulden contrahirt; eine wirkliche Entlastung hat
also gar nicht stattgefunden, sondern eine neue Belastung mit 132 Mill.
Der ganze Proceß also der Einlösung alter und Ausgabe neuer Schuldtitel,
im Belauf von 101 Mill., hätte gespart werden können. Dabei ist nicht
außer Acht zu lassen, wie bedeutende Summen der Staat dadurch verlor, daß
er die gezogenen Obligationen zu voll einlöste, während er die neuen Obli¬
gationen nur zu durchschnittlich 94--9S realisirte. Ebensowenig aber hatten
im Großen und Ganzen die Gläubiger davon Vortheil, denn sie verloren
notorisch jährlich große Summen an Zinsen, weil sie übersahen, daß die be¬
treffenden Schuldscheine zur Einlösung gezogen waren; es liest eben nicht
Jeder täglich den "Staatsanzeiger". Daß die früher oder später bevor¬
stehende Tilgung durch Loos keinen besonderen Werth in den Augen des
Publikums hat, ergibt sich daraus, daß die verschiedensten Jahrgänge der
4Vz proeentigen zu denselben Preisen gehandelt werden. -- Zur Rechtfertigung
des widerspruchsvollen Verfahrens hat man als einzig triftigen Grund ange-


Herr Camphausen zerriß durch seine erste Rede mit einem Schlage dieses
trügerische Gewebe des Pessimismus; er zeigte, daß von einem eigentlichen
Deficit keine Rede sei, wenn die Fehlsumme kaum SV2 MM. betrage, gleich¬
zeitig der Staat aber 8^ Mill. auf Tilgung seiner Schulden verwende — von
dem diese Schuldenmasse weit übersteigenden Capitalvermögen gar nicht ein¬
mal zu reden. Gleichwohl bestand für den Augenblick das Deficit, weil man
sich bet Contrahirung der Schuld zur Amortisation im gedachten Betrage
verbindlich gemacht hatte. Neue Steuern und Zuschlage wollte man nicht,
Steuerreformen, welche der Minister schon im Auge zu haben erklärte, konn¬
ten nur langsam wirken, es blieb also nur übrig, im Wege des freiwilligen
Uebereinkommens mit den Staatsgläubigern sich dahin zu verständigen, daß
dieselben auf eine Tilgung in dem genannten Maße verzichteten. Dieser
Weg war um so richtiger, als ganz abgesehen vom Deficit, die bisherige Til¬
gungsart dem Staatstnteresse widersprach. Es ist einer der ersten Grund¬
sätze der Finanzwirthschaft, daß man Schulden nur mit überschüssigen Ein¬
nahmen bezahlen kann; demzufolge mußte es als handgreiflicher Widersinn
gelten, wenn der Staat nicht blos mit einer Hand alte Schulden abbezahlt
und mit der anderen neue macht, sondern für die neu-contrahirten mehr
Zinsen zahlt, als er für die alten gab, z. B. Schuldscheine, die 92 stehen, zu
Voll einlöst und dann wieder zu 91 bringt. Der Price'sche Sophismus von
der wunderbar wirkenden Kraft des Sinking-Fond ist längst widerlegt und
es ist unbegreiflich, daß Virchow darauf zurückkommmen konnte. Eine wirk¬
liche Tilgung von Schulden fand 1820—48 in Preußen statt, wo keine
neuen gemacht und 40 Mill. abbezahlt wurden. Von 1848—67 ging die
Tilgung fort, so daß 101 Mill. eingelöst wurden, aber in derselben Zeit
wurden 233 Mill. neue Schulden contrahirt; eine wirkliche Entlastung hat
also gar nicht stattgefunden, sondern eine neue Belastung mit 132 Mill.
Der ganze Proceß also der Einlösung alter und Ausgabe neuer Schuldtitel,
im Belauf von 101 Mill., hätte gespart werden können. Dabei ist nicht
außer Acht zu lassen, wie bedeutende Summen der Staat dadurch verlor, daß
er die gezogenen Obligationen zu voll einlöste, während er die neuen Obli¬
gationen nur zu durchschnittlich 94—9S realisirte. Ebensowenig aber hatten
im Großen und Ganzen die Gläubiger davon Vortheil, denn sie verloren
notorisch jährlich große Summen an Zinsen, weil sie übersahen, daß die be¬
treffenden Schuldscheine zur Einlösung gezogen waren; es liest eben nicht
Jeder täglich den „Staatsanzeiger". Daß die früher oder später bevor¬
stehende Tilgung durch Loos keinen besonderen Werth in den Augen des
Publikums hat, ergibt sich daraus, daß die verschiedensten Jahrgänge der
4Vz proeentigen zu denselben Preisen gehandelt werden. — Zur Rechtfertigung
des widerspruchsvollen Verfahrens hat man als einzig triftigen Grund ange-


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[0208] Herr Camphausen zerriß durch seine erste Rede mit einem Schlage dieses trügerische Gewebe des Pessimismus; er zeigte, daß von einem eigentlichen Deficit keine Rede sei, wenn die Fehlsumme kaum SV2 MM. betrage, gleich¬ zeitig der Staat aber 8^ Mill. auf Tilgung seiner Schulden verwende — von dem diese Schuldenmasse weit übersteigenden Capitalvermögen gar nicht ein¬ mal zu reden. Gleichwohl bestand für den Augenblick das Deficit, weil man sich bet Contrahirung der Schuld zur Amortisation im gedachten Betrage verbindlich gemacht hatte. Neue Steuern und Zuschlage wollte man nicht, Steuerreformen, welche der Minister schon im Auge zu haben erklärte, konn¬ ten nur langsam wirken, es blieb also nur übrig, im Wege des freiwilligen Uebereinkommens mit den Staatsgläubigern sich dahin zu verständigen, daß dieselben auf eine Tilgung in dem genannten Maße verzichteten. Dieser Weg war um so richtiger, als ganz abgesehen vom Deficit, die bisherige Til¬ gungsart dem Staatstnteresse widersprach. Es ist einer der ersten Grund¬ sätze der Finanzwirthschaft, daß man Schulden nur mit überschüssigen Ein¬ nahmen bezahlen kann; demzufolge mußte es als handgreiflicher Widersinn gelten, wenn der Staat nicht blos mit einer Hand alte Schulden abbezahlt und mit der anderen neue macht, sondern für die neu-contrahirten mehr Zinsen zahlt, als er für die alten gab, z. B. Schuldscheine, die 92 stehen, zu Voll einlöst und dann wieder zu 91 bringt. Der Price'sche Sophismus von der wunderbar wirkenden Kraft des Sinking-Fond ist längst widerlegt und es ist unbegreiflich, daß Virchow darauf zurückkommmen konnte. Eine wirk¬ liche Tilgung von Schulden fand 1820—48 in Preußen statt, wo keine neuen gemacht und 40 Mill. abbezahlt wurden. Von 1848—67 ging die Tilgung fort, so daß 101 Mill. eingelöst wurden, aber in derselben Zeit wurden 233 Mill. neue Schulden contrahirt; eine wirkliche Entlastung hat also gar nicht stattgefunden, sondern eine neue Belastung mit 132 Mill. Der ganze Proceß also der Einlösung alter und Ausgabe neuer Schuldtitel, im Belauf von 101 Mill., hätte gespart werden können. Dabei ist nicht außer Acht zu lassen, wie bedeutende Summen der Staat dadurch verlor, daß er die gezogenen Obligationen zu voll einlöste, während er die neuen Obli¬ gationen nur zu durchschnittlich 94—9S realisirte. Ebensowenig aber hatten im Großen und Ganzen die Gläubiger davon Vortheil, denn sie verloren notorisch jährlich große Summen an Zinsen, weil sie übersahen, daß die be¬ treffenden Schuldscheine zur Einlösung gezogen waren; es liest eben nicht Jeder täglich den „Staatsanzeiger". Daß die früher oder später bevor¬ stehende Tilgung durch Loos keinen besonderen Werth in den Augen des Publikums hat, ergibt sich daraus, daß die verschiedensten Jahrgänge der 4Vz proeentigen zu denselben Preisen gehandelt werden. — Zur Rechtfertigung des widerspruchsvollen Verfahrens hat man als einzig triftigen Grund ange-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/208>, abgerufen am 16.06.2024.