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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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durft doppelt und dreifach zu verschaffen; ja die Vielheit der zugänglichen,
still fließenden Unterstützungsquellen mußte förmlich wie eine Prämie auf das
Bestreben wirken, durch Heuchelei und Lüge ein Almosen herauszuschlagen,
das den höchsten denkbaren Ertrag einfacher Arbeit weit überstieg. Und da
es selbstverständlich bekannt war, wie viel besser sich manche Empfänger von
Stiftungsalmosen im Vergleich zu sich selbst erhaltenden Arbeitern der unteren
Erwerbszweige standen, so konnte der zersplitterte Stistungsüberfluß nicht
anders als durchgängig entmuthigend auf den Trieb zur Arbeit und Selbst¬
erhaltung wirken. Da es so viele verschwiegene Pforten zu dem Tempel der
Barmherzigkeit gab, jede unter eines andern Pförtners Verschluß, so mochten
wenige Lübecker sein, zu deren Lebensaussichten es nicht gehörte, sich schlimm¬
sten Falls an einen bei der Stiftungsverwaltung betheiligten Gönner wen¬
den zu können -- eine üble Art von Sicherheit, denn sie läßt die wirth¬
schaftliche Energie des Menschen nicht zu voller Entfaltung kommen.

Das Gesammtvermögen der Lübecker Stiftungen wird (nach Dr. P.
Kollmann in Emminghaus, Sammelwerk über Armenpflege) auf nicht weniger
als'acht Millionen Thaler geschätzt. Von den laufenden Erträgen desselben
geht allerdings Einiges ab für Zuschüsse an Kirchen und Schulen, Stipen¬
dien an Studirende (1857: 4200 Thaler an deren 14), Prämien u. s. f. an
treue Dienstboten (18S7: 880 Thaler an deren 40); aber die große Masse ist
doch für allerhand Armenunterstützungszwecke da, rund 200,000 Thaler im
Jahre. Das macht bei 37-38,000 Einwohnern fast 6 Thaler auf den Kopf.
Des Steuerzwangs bedarf es daher nicht, um hier die Kosten der Armen¬
pflege zu bestreiten. So reichlich haben die Vorfahren aufgespeichert, daß die
Lebenden sich ohne Gefahr, ja mit unzweifelhafterem Vortheil ganz enthalten
könnten, aus ihren Einkünften den Nothleidenden zu geben. Sie bringen noch
etwa 10,000 Thaler jährlich an freiwilligen Beiträgen auf; aber was ver¬
schlägt ihr Hinzukommen oder Fehlen, wenn die Zinsen von 7--8 Millionen
ausgegeben werden dürfen?

Der erste Schritt, in dieses wüste und gefahrvolle Chaos Licht, Ordnung
und Einheit zu bringen, geschah 1816 mit der Einsetzung der Centralarmen-
deputation. Aber was die Stiftungsverwaltungen einigermaßen von dieser
abhängig machen sollte, blieb größtentheils auf dem Papier stehen. Daher
begann seit 1844 eine Reformagitation, die jedoch, wie bei der hanseatischen
Selbstverwaltung herkömmlich, geraume Zeit brauchte, um durchzudringen,
nämlich dreizehn Jahre. Erst 18S7 wurden sämmtliche Stiftungen angewie¬
sen, der obersten Armenbehörde (eben jener Centralarmendeputation) regel¬
mäßig ihre Rechnungsabschlusse und Geschäftsberichte zukommen zu lassen,
serner der allgemeinen Armenanstalt eine Anzahl reichbegüterter Stiftungen
einverleibt und die öffentlichen Stiftungen soweit verschmolzen, daß seitdem


durft doppelt und dreifach zu verschaffen; ja die Vielheit der zugänglichen,
still fließenden Unterstützungsquellen mußte förmlich wie eine Prämie auf das
Bestreben wirken, durch Heuchelei und Lüge ein Almosen herauszuschlagen,
das den höchsten denkbaren Ertrag einfacher Arbeit weit überstieg. Und da
es selbstverständlich bekannt war, wie viel besser sich manche Empfänger von
Stiftungsalmosen im Vergleich zu sich selbst erhaltenden Arbeitern der unteren
Erwerbszweige standen, so konnte der zersplitterte Stistungsüberfluß nicht
anders als durchgängig entmuthigend auf den Trieb zur Arbeit und Selbst¬
erhaltung wirken. Da es so viele verschwiegene Pforten zu dem Tempel der
Barmherzigkeit gab, jede unter eines andern Pförtners Verschluß, so mochten
wenige Lübecker sein, zu deren Lebensaussichten es nicht gehörte, sich schlimm¬
sten Falls an einen bei der Stiftungsverwaltung betheiligten Gönner wen¬
den zu können — eine üble Art von Sicherheit, denn sie läßt die wirth¬
schaftliche Energie des Menschen nicht zu voller Entfaltung kommen.

Das Gesammtvermögen der Lübecker Stiftungen wird (nach Dr. P.
Kollmann in Emminghaus, Sammelwerk über Armenpflege) auf nicht weniger
als'acht Millionen Thaler geschätzt. Von den laufenden Erträgen desselben
geht allerdings Einiges ab für Zuschüsse an Kirchen und Schulen, Stipen¬
dien an Studirende (1857: 4200 Thaler an deren 14), Prämien u. s. f. an
treue Dienstboten (18S7: 880 Thaler an deren 40); aber die große Masse ist
doch für allerhand Armenunterstützungszwecke da, rund 200,000 Thaler im
Jahre. Das macht bei 37-38,000 Einwohnern fast 6 Thaler auf den Kopf.
Des Steuerzwangs bedarf es daher nicht, um hier die Kosten der Armen¬
pflege zu bestreiten. So reichlich haben die Vorfahren aufgespeichert, daß die
Lebenden sich ohne Gefahr, ja mit unzweifelhafterem Vortheil ganz enthalten
könnten, aus ihren Einkünften den Nothleidenden zu geben. Sie bringen noch
etwa 10,000 Thaler jährlich an freiwilligen Beiträgen auf; aber was ver¬
schlägt ihr Hinzukommen oder Fehlen, wenn die Zinsen von 7—8 Millionen
ausgegeben werden dürfen?

Der erste Schritt, in dieses wüste und gefahrvolle Chaos Licht, Ordnung
und Einheit zu bringen, geschah 1816 mit der Einsetzung der Centralarmen-
deputation. Aber was die Stiftungsverwaltungen einigermaßen von dieser
abhängig machen sollte, blieb größtentheils auf dem Papier stehen. Daher
begann seit 1844 eine Reformagitation, die jedoch, wie bei der hanseatischen
Selbstverwaltung herkömmlich, geraume Zeit brauchte, um durchzudringen,
nämlich dreizehn Jahre. Erst 18S7 wurden sämmtliche Stiftungen angewie¬
sen, der obersten Armenbehörde (eben jener Centralarmendeputation) regel¬
mäßig ihre Rechnungsabschlusse und Geschäftsberichte zukommen zu lassen,
serner der allgemeinen Armenanstalt eine Anzahl reichbegüterter Stiftungen
einverleibt und die öffentlichen Stiftungen soweit verschmolzen, daß seitdem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/389>, abgerufen am 16.06.2024.