Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sein, weil sie sich ihr ausschließlich oder weil sie sich ihr aus freien Stücken
widmete. In der That scheinen solche Uebergänge sich auch nach dieser Rich¬
tung hin vorzubereiten.

Seit einem Vierteljahrhundert oder länger besteht in Magdeburg -- wie
der Lehrer Schütz von dort in Kassel erzählte -- die Einrichtung, daß die
Waisen in ausgewählten Familien untergebracht werden unter sorgsam indi-
vidualisirender Controls. Man verschwendet dort nicht, wie anderswo noch
vielfach, den schönen Namen Waisenvater und Waisenmutter an Anstalts¬
vorsteher, die theils nicht die Bildung, theils in ihren überfüllten Häusern
auch gar nicht einmal die Möglichkeit haben, wirklich an jedem einzelnen der
ihrer Obhut anvertrauten Kinder Elternstelle zu vertreten. Man behält ihn
solchen Männern und Frauen vor, welche sich freiwillig erbieten, je eine
Waise in der Familie, der dieselbe übergeben ist, unter Augen zu behalten,
und auch auf ihrem ferneren Lebensgange bis zu dem Zeitpunkt völliger
Selbständigkeit liebevoll wachsam zu begleiten. Es hat bisher in Magde¬
burg so wenig an geeigneten Persönlichkeiten für diese Art öffentlicher Vor¬
mundschaft, wie an vertrauenswerthen Familien für die Aufnahme der
Waisenkinder gefehlt. Jene versammeln sich allmonatlich zu einer Waisen-
conferenz, in der die vorkommenden Erziehungsfragen planvoll und eingehend
verhandelt werden. Die Pflegefamilien empfangen nach dem Urtheil des
Herrn Schütz -- die Summe nannte er nicht -- ein mäßiges, nicht zu ge¬
ringes Kostgeld, so daß die Speculation von einigem Interesse an der Sache
selbst unterstützt werden muß, und eben die Verbreitung solchen sachlichen
Interesses, die eine erfreuliche Folge der guten Wirkungen des Systems ist, stellt
der Waisenverwaltung stets die nöthige Auswahl von Familien für ihre
jungen Schützlinge zur Verfügung. Hier ist also auf beiden Seiten nicht der
organisirte Zwang, den die Commune mit dem Staate theilt, sondern jene
freie Hingebung thätig, welche sich einstellt, wo man ihr Spielraum eröffnet
innerhalb eines Erfolg versprechenden und gewährenden Systems zur Erfül¬
lung eines allgemein gewürdigten öffentlichen Zweckes. Ganz ähnlich muß
es um die 90--100 Berliner Waisenämter stehen, deren Organisation und
Wirksamkeit weiteren Kreisen noch nicht mitgetheilt worden sind. Wir
dürfen aber wohl bald einer derartigen Schilderung entgegensehen, da eben
aus dem Schoße der Berliner öffentlichen Waisenverwaltung seit dem Anfang
dieses Jahres eine Monatsschrift -- Redacteur der Stadtverordnete Dr. Fr.
I. Wehrend. Herausgeber Verlagsbuchhandlurg Ed. Weinberg -- hervorge¬
gangen, die "Die öffentliche Waisenpflege" betitelt und diesem Zweige der
Armenpflege ausschließlich gewidmet ist. Der Theil, beiläufig bemerkt, ist
damit früher in den Besitz eines solchen ständigen und specifischen Organs


Grenzboten I. 1870 6Z

sein, weil sie sich ihr ausschließlich oder weil sie sich ihr aus freien Stücken
widmete. In der That scheinen solche Uebergänge sich auch nach dieser Rich¬
tung hin vorzubereiten.

Seit einem Vierteljahrhundert oder länger besteht in Magdeburg — wie
der Lehrer Schütz von dort in Kassel erzählte — die Einrichtung, daß die
Waisen in ausgewählten Familien untergebracht werden unter sorgsam indi-
vidualisirender Controls. Man verschwendet dort nicht, wie anderswo noch
vielfach, den schönen Namen Waisenvater und Waisenmutter an Anstalts¬
vorsteher, die theils nicht die Bildung, theils in ihren überfüllten Häusern
auch gar nicht einmal die Möglichkeit haben, wirklich an jedem einzelnen der
ihrer Obhut anvertrauten Kinder Elternstelle zu vertreten. Man behält ihn
solchen Männern und Frauen vor, welche sich freiwillig erbieten, je eine
Waise in der Familie, der dieselbe übergeben ist, unter Augen zu behalten,
und auch auf ihrem ferneren Lebensgange bis zu dem Zeitpunkt völliger
Selbständigkeit liebevoll wachsam zu begleiten. Es hat bisher in Magde¬
burg so wenig an geeigneten Persönlichkeiten für diese Art öffentlicher Vor¬
mundschaft, wie an vertrauenswerthen Familien für die Aufnahme der
Waisenkinder gefehlt. Jene versammeln sich allmonatlich zu einer Waisen-
conferenz, in der die vorkommenden Erziehungsfragen planvoll und eingehend
verhandelt werden. Die Pflegefamilien empfangen nach dem Urtheil des
Herrn Schütz — die Summe nannte er nicht — ein mäßiges, nicht zu ge¬
ringes Kostgeld, so daß die Speculation von einigem Interesse an der Sache
selbst unterstützt werden muß, und eben die Verbreitung solchen sachlichen
Interesses, die eine erfreuliche Folge der guten Wirkungen des Systems ist, stellt
der Waisenverwaltung stets die nöthige Auswahl von Familien für ihre
jungen Schützlinge zur Verfügung. Hier ist also auf beiden Seiten nicht der
organisirte Zwang, den die Commune mit dem Staate theilt, sondern jene
freie Hingebung thätig, welche sich einstellt, wo man ihr Spielraum eröffnet
innerhalb eines Erfolg versprechenden und gewährenden Systems zur Erfül¬
lung eines allgemein gewürdigten öffentlichen Zweckes. Ganz ähnlich muß
es um die 90—100 Berliner Waisenämter stehen, deren Organisation und
Wirksamkeit weiteren Kreisen noch nicht mitgetheilt worden sind. Wir
dürfen aber wohl bald einer derartigen Schilderung entgegensehen, da eben
aus dem Schoße der Berliner öffentlichen Waisenverwaltung seit dem Anfang
dieses Jahres eine Monatsschrift — Redacteur der Stadtverordnete Dr. Fr.
I. Wehrend. Herausgeber Verlagsbuchhandlurg Ed. Weinberg — hervorge¬
gangen, die „Die öffentliche Waisenpflege" betitelt und diesem Zweige der
Armenpflege ausschließlich gewidmet ist. Der Theil, beiläufig bemerkt, ist
damit früher in den Besitz eines solchen ständigen und specifischen Organs


Grenzboten I. 1870 6Z
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0503" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/123591"/>
          <p xml:id="ID_1438" prev="#ID_1437"> sein, weil sie sich ihr ausschließlich oder weil sie sich ihr aus freien Stücken<lb/>
widmete. In der That scheinen solche Uebergänge sich auch nach dieser Rich¬<lb/>
tung hin vorzubereiten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1439" next="#ID_1440"> Seit einem Vierteljahrhundert oder länger besteht in Magdeburg &#x2014; wie<lb/>
der Lehrer Schütz von dort in Kassel erzählte &#x2014; die Einrichtung, daß die<lb/>
Waisen in ausgewählten Familien untergebracht werden unter sorgsam indi-<lb/>
vidualisirender Controls. Man verschwendet dort nicht, wie anderswo noch<lb/>
vielfach, den schönen Namen Waisenvater und Waisenmutter an Anstalts¬<lb/>
vorsteher, die theils nicht die Bildung, theils in ihren überfüllten Häusern<lb/>
auch gar nicht einmal die Möglichkeit haben, wirklich an jedem einzelnen der<lb/>
ihrer Obhut anvertrauten Kinder Elternstelle zu vertreten. Man behält ihn<lb/>
solchen Männern und Frauen vor, welche sich freiwillig erbieten, je eine<lb/>
Waise in der Familie, der dieselbe übergeben ist, unter Augen zu behalten,<lb/>
und auch auf ihrem ferneren Lebensgange bis zu dem Zeitpunkt völliger<lb/>
Selbständigkeit liebevoll wachsam zu begleiten. Es hat bisher in Magde¬<lb/>
burg so wenig an geeigneten Persönlichkeiten für diese Art öffentlicher Vor¬<lb/>
mundschaft, wie an vertrauenswerthen Familien für die Aufnahme der<lb/>
Waisenkinder gefehlt. Jene versammeln sich allmonatlich zu einer Waisen-<lb/>
conferenz, in der die vorkommenden Erziehungsfragen planvoll und eingehend<lb/>
verhandelt werden. Die Pflegefamilien empfangen nach dem Urtheil des<lb/>
Herrn Schütz &#x2014; die Summe nannte er nicht &#x2014; ein mäßiges, nicht zu ge¬<lb/>
ringes Kostgeld, so daß die Speculation von einigem Interesse an der Sache<lb/>
selbst unterstützt werden muß, und eben die Verbreitung solchen sachlichen<lb/>
Interesses, die eine erfreuliche Folge der guten Wirkungen des Systems ist, stellt<lb/>
der Waisenverwaltung stets die nöthige Auswahl von Familien für ihre<lb/>
jungen Schützlinge zur Verfügung. Hier ist also auf beiden Seiten nicht der<lb/>
organisirte Zwang, den die Commune mit dem Staate theilt, sondern jene<lb/>
freie Hingebung thätig, welche sich einstellt, wo man ihr Spielraum eröffnet<lb/>
innerhalb eines Erfolg versprechenden und gewährenden Systems zur Erfül¬<lb/>
lung eines allgemein gewürdigten öffentlichen Zweckes. Ganz ähnlich muß<lb/>
es um die 90&#x2014;100 Berliner Waisenämter stehen, deren Organisation und<lb/>
Wirksamkeit weiteren Kreisen noch nicht mitgetheilt worden sind. Wir<lb/>
dürfen aber wohl bald einer derartigen Schilderung entgegensehen, da eben<lb/>
aus dem Schoße der Berliner öffentlichen Waisenverwaltung seit dem Anfang<lb/>
dieses Jahres eine Monatsschrift &#x2014; Redacteur der Stadtverordnete Dr. Fr.<lb/>
I. Wehrend. Herausgeber Verlagsbuchhandlurg Ed. Weinberg &#x2014; hervorge¬<lb/>
gangen, die &#x201E;Die öffentliche Waisenpflege" betitelt und diesem Zweige der<lb/>
Armenpflege ausschließlich gewidmet ist. Der Theil, beiläufig bemerkt, ist<lb/>
damit früher in den Besitz eines solchen ständigen und specifischen Organs</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I. 1870 6Z</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0503] sein, weil sie sich ihr ausschließlich oder weil sie sich ihr aus freien Stücken widmete. In der That scheinen solche Uebergänge sich auch nach dieser Rich¬ tung hin vorzubereiten. Seit einem Vierteljahrhundert oder länger besteht in Magdeburg — wie der Lehrer Schütz von dort in Kassel erzählte — die Einrichtung, daß die Waisen in ausgewählten Familien untergebracht werden unter sorgsam indi- vidualisirender Controls. Man verschwendet dort nicht, wie anderswo noch vielfach, den schönen Namen Waisenvater und Waisenmutter an Anstalts¬ vorsteher, die theils nicht die Bildung, theils in ihren überfüllten Häusern auch gar nicht einmal die Möglichkeit haben, wirklich an jedem einzelnen der ihrer Obhut anvertrauten Kinder Elternstelle zu vertreten. Man behält ihn solchen Männern und Frauen vor, welche sich freiwillig erbieten, je eine Waise in der Familie, der dieselbe übergeben ist, unter Augen zu behalten, und auch auf ihrem ferneren Lebensgange bis zu dem Zeitpunkt völliger Selbständigkeit liebevoll wachsam zu begleiten. Es hat bisher in Magde¬ burg so wenig an geeigneten Persönlichkeiten für diese Art öffentlicher Vor¬ mundschaft, wie an vertrauenswerthen Familien für die Aufnahme der Waisenkinder gefehlt. Jene versammeln sich allmonatlich zu einer Waisen- conferenz, in der die vorkommenden Erziehungsfragen planvoll und eingehend verhandelt werden. Die Pflegefamilien empfangen nach dem Urtheil des Herrn Schütz — die Summe nannte er nicht — ein mäßiges, nicht zu ge¬ ringes Kostgeld, so daß die Speculation von einigem Interesse an der Sache selbst unterstützt werden muß, und eben die Verbreitung solchen sachlichen Interesses, die eine erfreuliche Folge der guten Wirkungen des Systems ist, stellt der Waisenverwaltung stets die nöthige Auswahl von Familien für ihre jungen Schützlinge zur Verfügung. Hier ist also auf beiden Seiten nicht der organisirte Zwang, den die Commune mit dem Staate theilt, sondern jene freie Hingebung thätig, welche sich einstellt, wo man ihr Spielraum eröffnet innerhalb eines Erfolg versprechenden und gewährenden Systems zur Erfül¬ lung eines allgemein gewürdigten öffentlichen Zweckes. Ganz ähnlich muß es um die 90—100 Berliner Waisenämter stehen, deren Organisation und Wirksamkeit weiteren Kreisen noch nicht mitgetheilt worden sind. Wir dürfen aber wohl bald einer derartigen Schilderung entgegensehen, da eben aus dem Schoße der Berliner öffentlichen Waisenverwaltung seit dem Anfang dieses Jahres eine Monatsschrift — Redacteur der Stadtverordnete Dr. Fr. I. Wehrend. Herausgeber Verlagsbuchhandlurg Ed. Weinberg — hervorge¬ gangen, die „Die öffentliche Waisenpflege" betitelt und diesem Zweige der Armenpflege ausschließlich gewidmet ist. Der Theil, beiläufig bemerkt, ist damit früher in den Besitz eines solchen ständigen und specifischen Organs Grenzboten I. 1870 6Z

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/503
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/503>, abgerufen am 17.06.2024.