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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band.

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auf Rechnung der Ueberanstrengung und mancher vergeblichen Liebesmüh' ge¬
schrieben hatte. Verstimmend auf Mitspieler und Zeugen mußte von vorn¬
herein wirken, daß die Versammlung eine lange Reihe von Tagen unvoll¬
zählig war und wiederholt Miene machte, in diesen Zustand zurückzusinken
-- jenen Demokraten zur Freude und Befriedigung, welche seit lange be¬
kannt hatten, daß es für Vertreter eines großen Culturvolks wöchentlicher
Cassenbillets im Betrage von 20 Thalern bedürfe, um sie zu ganzen Män¬
nern zu machen. Und kaum waren die peinlichen Eindrücke dieses lahmen
Introitus verwunden, so wurde ein Mißgriff begangen, über dessen Unver-
antwortlichkeit eigentlich alle Zweifel ausgeschlossen sind, der für disputabel
nur gelten kann, weil wir am Anfang unserer politischen Lehrjahre stehen.
Dieser Mißgriff war die von der national-liberalen Partei unternommene
Motion in der badtschen Frage.

Schon der Tag, an welchem die bevorstehende Einbringung derselben
von den Zeitungen angekündigt wurde, war den Freunden der nationalen
Sache ein Tag peinlicher Verwunderung. Von der beabsichtigten Adresse
war Abstand genommen worden, sobald man in Erfahrung gebracht, daß
das Bundespräsidium dieselbe aus diplomatischen Gründen nicht für opportun
erachte, -- Berliner Correspondenten nationaler Blätter hatten die von der
freieonservativen Partei ausgegangene Anregung zu dieser Adresse sogar als
Symptom unzeitigen Eifers gescholten. Was war geschehen, um die nationale
Partei über Nacht anderen Sinnes zu machen? Bei einer Adresse wäre die
Möglichkeit allgemein gehaltener Wünsche und Hoffnungen offen geblieben
jetzt sah man es auf eine Resolution ab, die einer Jnterpellation des Bundes¬
kanzlers täuschend ähnlich sah! Hatte dieser seine Haltung geändert oder war
irgend etwas geschehen, das dem Leiter der nationalen Politik plötzlich Ver¬
trauen und Unterstützung seiner liberalen Bundesgenossen entzogen, die ge-
sammte Situation in ihr Gegentheil verändert hatte? Nichts von dem
Allem: ganz im Allgemeinen fühlte man das Bedürfniß, fromme Wünsche,
wie sie in Volksversammlungen üblich und am Platz sind, durch das Parla¬
ment formultren zu lassen, dem Bundeskanzler bei Gelegenheit zu sagen, die
seit den letzten Jahren von ihm verfolgte Politik sei eigentlich falsch gewesen
und nicht in Bayern, sondern in Baden sei mit der Ueberbrückung der Mainlinie
der Anfang zu machen. Seiner guten und ehrlichen Absicht war man sich dabei
natürlich bewußt, der Zustimmung der Freunde im Süden gleichfalls: daß die
Verhandlung vor den Augen und Ohren von ganz Europa geführt wurde,
war ja nur ein beiläufiges Moment und daß auf diese Weise die bisherige
Bundespolitik nicht gefördert sondern gekreuzt werde, konnte im Ernst doch
nicht behauptet werden, da die national-liberale Partei als gut intentionirt


auf Rechnung der Ueberanstrengung und mancher vergeblichen Liebesmüh' ge¬
schrieben hatte. Verstimmend auf Mitspieler und Zeugen mußte von vorn¬
herein wirken, daß die Versammlung eine lange Reihe von Tagen unvoll¬
zählig war und wiederholt Miene machte, in diesen Zustand zurückzusinken
— jenen Demokraten zur Freude und Befriedigung, welche seit lange be¬
kannt hatten, daß es für Vertreter eines großen Culturvolks wöchentlicher
Cassenbillets im Betrage von 20 Thalern bedürfe, um sie zu ganzen Män¬
nern zu machen. Und kaum waren die peinlichen Eindrücke dieses lahmen
Introitus verwunden, so wurde ein Mißgriff begangen, über dessen Unver-
antwortlichkeit eigentlich alle Zweifel ausgeschlossen sind, der für disputabel
nur gelten kann, weil wir am Anfang unserer politischen Lehrjahre stehen.
Dieser Mißgriff war die von der national-liberalen Partei unternommene
Motion in der badtschen Frage.

Schon der Tag, an welchem die bevorstehende Einbringung derselben
von den Zeitungen angekündigt wurde, war den Freunden der nationalen
Sache ein Tag peinlicher Verwunderung. Von der beabsichtigten Adresse
war Abstand genommen worden, sobald man in Erfahrung gebracht, daß
das Bundespräsidium dieselbe aus diplomatischen Gründen nicht für opportun
erachte, — Berliner Correspondenten nationaler Blätter hatten die von der
freieonservativen Partei ausgegangene Anregung zu dieser Adresse sogar als
Symptom unzeitigen Eifers gescholten. Was war geschehen, um die nationale
Partei über Nacht anderen Sinnes zu machen? Bei einer Adresse wäre die
Möglichkeit allgemein gehaltener Wünsche und Hoffnungen offen geblieben
jetzt sah man es auf eine Resolution ab, die einer Jnterpellation des Bundes¬
kanzlers täuschend ähnlich sah! Hatte dieser seine Haltung geändert oder war
irgend etwas geschehen, das dem Leiter der nationalen Politik plötzlich Ver¬
trauen und Unterstützung seiner liberalen Bundesgenossen entzogen, die ge-
sammte Situation in ihr Gegentheil verändert hatte? Nichts von dem
Allem: ganz im Allgemeinen fühlte man das Bedürfniß, fromme Wünsche,
wie sie in Volksversammlungen üblich und am Platz sind, durch das Parla¬
ment formultren zu lassen, dem Bundeskanzler bei Gelegenheit zu sagen, die
seit den letzten Jahren von ihm verfolgte Politik sei eigentlich falsch gewesen
und nicht in Bayern, sondern in Baden sei mit der Ueberbrückung der Mainlinie
der Anfang zu machen. Seiner guten und ehrlichen Absicht war man sich dabei
natürlich bewußt, der Zustimmung der Freunde im Süden gleichfalls: daß die
Verhandlung vor den Augen und Ohren von ganz Europa geführt wurde,
war ja nur ein beiläufiges Moment und daß auf diese Weise die bisherige
Bundespolitik nicht gefördert sondern gekreuzt werde, konnte im Ernst doch
nicht behauptet werden, da die national-liberale Partei als gut intentionirt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_123087/512>, abgerufen am 17.06.2024.