Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

wurden, kreuzten sich die Wege der Einzelnen auflas Wunderbarste. Da
gab es kein Entrinnen und Verschweigen. Da entstanden die seltsamsten
Hoffnungen auf gemeinsames Wirken. An's Staatsgefüge durste Niemand
die Hand legen, aber auf rein geistigem Wege ließen sich Staaten höherer
Art mit geistiger Organisation herstellen. Was die Freimaurerei auf mora¬
lischem Gebiet bewirkt hatte, das wollten die Romantiker auf ästhetischem
erreichen. Schleiermacher allein vielleicht ist es dann gelungen, aus dieser
Schule in ein rein- praktisches Wirken hinüberzutreten, das zu harmonischem
Abschluß führte. Ihm deshalb, weil die Menschenkenntniß, deren er später
bedürfte, auf keinem anderen Wege so reich zu gewinnen gewesen wäre.

Was hiermit zur Anzeige des Dilthey'schen Buches gesagt worden ist.
kann nicht als ein eigentlicher Reflex dessen gelten wollen, was es enthält.
Dilthey macht die Entwickelung der Schleiermacher'schen Philosophie, die er
von ihren anfänglichen Elementen an verfolgt, zur Mitte seiner Untersuchungen.
Ihm auf dies Gebiet zu folgen, ist die Sache derer, die gleiche Studien trei¬
ben, und diese Anmerkungen gelten nur dem historischen Theile feines Buches.
Dilthey war seiner ganzen Anlage nach zum Biographen Schleiermacher's
wie prädestinirt. Deshalb würde es vielleicht keinem Anderen gelungen sein,
wie ihm, aus dem ihm vorliegenden übermächtigen Materials mit glücklicher
Hand nur das nothwendigste zu wählen. Dies nun hat er in seine Arbeit
so gut hineinzufügen gewußt, daß nirgends die gleichsam anders zugehauenen
Steine Schleiermacher's aus dem Mauerwerke der eignen Sätze Dilthey's
fremd hervorstehen.

Es kam bei seiner Arbeit auf noch einen Punkt besonders an, mit dessen
Erwähnung diese Notiz schließen soll. Wir sind jetzt auf das aus, was das
Charakteristische genannt zu werden pflegt. Wir glauben heute die Menschen
und Dinge besser zu sehn und deutlicher uns einzuprägen, wenn wir sie unter
absichtlich scharfer Beleuchtung, sodaß Licht und Schatten grell aneinander
stoßen, vor uns haben, während diejenigen Charaktere am verständlichste" zu
sein scheinen, welche von Anfang an von bestimmter Stelle aus die Dinge
ansehn und diesen Standpunkt festhalten. Also ein Kopf, wie Rembrandt
ihn malt, scheint uns wahrer, als wie ein griechischer Bildhauer ihn in Mar¬
mor dargestellt hätte, und eine Figur aus einem Romane von Dickens
lebendiger, als eine der Gestalten, die die Wahlverwandtschaften Goethe's
etwa enthalten, oder die in den Dialogen Plato's mitreden.

So könnte auch Manchem heute, der Schleiermacher's Briefe gelesen Und
seine Wirksamkeit verfolgt hat, der edle Geist des Mannes, die umfassende
Güte seines Wesens, die Allgemeinheit seiner Anschauungen, die Gleichmäßig¬
kett seiner fließenden, an griechischem Satzbau geschulten Sprache^zu wenig


wurden, kreuzten sich die Wege der Einzelnen auflas Wunderbarste. Da
gab es kein Entrinnen und Verschweigen. Da entstanden die seltsamsten
Hoffnungen auf gemeinsames Wirken. An's Staatsgefüge durste Niemand
die Hand legen, aber auf rein geistigem Wege ließen sich Staaten höherer
Art mit geistiger Organisation herstellen. Was die Freimaurerei auf mora¬
lischem Gebiet bewirkt hatte, das wollten die Romantiker auf ästhetischem
erreichen. Schleiermacher allein vielleicht ist es dann gelungen, aus dieser
Schule in ein rein- praktisches Wirken hinüberzutreten, das zu harmonischem
Abschluß führte. Ihm deshalb, weil die Menschenkenntniß, deren er später
bedürfte, auf keinem anderen Wege so reich zu gewinnen gewesen wäre.

Was hiermit zur Anzeige des Dilthey'schen Buches gesagt worden ist.
kann nicht als ein eigentlicher Reflex dessen gelten wollen, was es enthält.
Dilthey macht die Entwickelung der Schleiermacher'schen Philosophie, die er
von ihren anfänglichen Elementen an verfolgt, zur Mitte seiner Untersuchungen.
Ihm auf dies Gebiet zu folgen, ist die Sache derer, die gleiche Studien trei¬
ben, und diese Anmerkungen gelten nur dem historischen Theile feines Buches.
Dilthey war seiner ganzen Anlage nach zum Biographen Schleiermacher's
wie prädestinirt. Deshalb würde es vielleicht keinem Anderen gelungen sein,
wie ihm, aus dem ihm vorliegenden übermächtigen Materials mit glücklicher
Hand nur das nothwendigste zu wählen. Dies nun hat er in seine Arbeit
so gut hineinzufügen gewußt, daß nirgends die gleichsam anders zugehauenen
Steine Schleiermacher's aus dem Mauerwerke der eignen Sätze Dilthey's
fremd hervorstehen.

Es kam bei seiner Arbeit auf noch einen Punkt besonders an, mit dessen
Erwähnung diese Notiz schließen soll. Wir sind jetzt auf das aus, was das
Charakteristische genannt zu werden pflegt. Wir glauben heute die Menschen
und Dinge besser zu sehn und deutlicher uns einzuprägen, wenn wir sie unter
absichtlich scharfer Beleuchtung, sodaß Licht und Schatten grell aneinander
stoßen, vor uns haben, während diejenigen Charaktere am verständlichste» zu
sein scheinen, welche von Anfang an von bestimmter Stelle aus die Dinge
ansehn und diesen Standpunkt festhalten. Also ein Kopf, wie Rembrandt
ihn malt, scheint uns wahrer, als wie ein griechischer Bildhauer ihn in Mar¬
mor dargestellt hätte, und eine Figur aus einem Romane von Dickens
lebendiger, als eine der Gestalten, die die Wahlverwandtschaften Goethe's
etwa enthalten, oder die in den Dialogen Plato's mitreden.

So könnte auch Manchem heute, der Schleiermacher's Briefe gelesen Und
seine Wirksamkeit verfolgt hat, der edle Geist des Mannes, die umfassende
Güte seines Wesens, die Allgemeinheit seiner Anschauungen, die Gleichmäßig¬
kett seiner fließenden, an griechischem Satzbau geschulten Sprache^zu wenig


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0015" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/124167"/>
          <p xml:id="ID_27" prev="#ID_26"> wurden, kreuzten sich die Wege der Einzelnen auflas Wunderbarste. Da<lb/>
gab es kein Entrinnen und Verschweigen. Da entstanden die seltsamsten<lb/>
Hoffnungen auf gemeinsames Wirken. An's Staatsgefüge durste Niemand<lb/>
die Hand legen, aber auf rein geistigem Wege ließen sich Staaten höherer<lb/>
Art mit geistiger Organisation herstellen. Was die Freimaurerei auf mora¬<lb/>
lischem Gebiet bewirkt hatte, das wollten die Romantiker auf ästhetischem<lb/>
erreichen. Schleiermacher allein vielleicht ist es dann gelungen, aus dieser<lb/>
Schule in ein rein- praktisches Wirken hinüberzutreten, das zu harmonischem<lb/>
Abschluß führte. Ihm deshalb, weil die Menschenkenntniß, deren er später<lb/>
bedürfte, auf keinem anderen Wege so reich zu gewinnen gewesen wäre.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_28"> Was hiermit zur Anzeige des Dilthey'schen Buches gesagt worden ist.<lb/>
kann nicht als ein eigentlicher Reflex dessen gelten wollen, was es enthält.<lb/>
Dilthey macht die Entwickelung der Schleiermacher'schen Philosophie, die er<lb/>
von ihren anfänglichen Elementen an verfolgt, zur Mitte seiner Untersuchungen.<lb/>
Ihm auf dies Gebiet zu folgen, ist die Sache derer, die gleiche Studien trei¬<lb/>
ben, und diese Anmerkungen gelten nur dem historischen Theile feines Buches.<lb/>
Dilthey war seiner ganzen Anlage nach zum Biographen Schleiermacher's<lb/>
wie prädestinirt. Deshalb würde es vielleicht keinem Anderen gelungen sein,<lb/>
wie ihm, aus dem ihm vorliegenden übermächtigen Materials mit glücklicher<lb/>
Hand nur das nothwendigste zu wählen. Dies nun hat er in seine Arbeit<lb/>
so gut hineinzufügen gewußt, daß nirgends die gleichsam anders zugehauenen<lb/>
Steine Schleiermacher's aus dem Mauerwerke der eignen Sätze Dilthey's<lb/>
fremd hervorstehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_29"> Es kam bei seiner Arbeit auf noch einen Punkt besonders an, mit dessen<lb/>
Erwähnung diese Notiz schließen soll. Wir sind jetzt auf das aus, was das<lb/>
Charakteristische genannt zu werden pflegt. Wir glauben heute die Menschen<lb/>
und Dinge besser zu sehn und deutlicher uns einzuprägen, wenn wir sie unter<lb/>
absichtlich scharfer Beleuchtung, sodaß Licht und Schatten grell aneinander<lb/>
stoßen, vor uns haben, während diejenigen Charaktere am verständlichste» zu<lb/>
sein scheinen, welche von Anfang an von bestimmter Stelle aus die Dinge<lb/>
ansehn und diesen Standpunkt festhalten. Also ein Kopf, wie Rembrandt<lb/>
ihn malt, scheint uns wahrer, als wie ein griechischer Bildhauer ihn in Mar¬<lb/>
mor dargestellt hätte, und eine Figur aus einem Romane von Dickens<lb/>
lebendiger, als eine der Gestalten, die die Wahlverwandtschaften Goethe's<lb/>
etwa enthalten, oder die in den Dialogen Plato's mitreden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_30" next="#ID_31"> So könnte auch Manchem heute, der Schleiermacher's Briefe gelesen Und<lb/>
seine Wirksamkeit verfolgt hat, der edle Geist des Mannes, die umfassende<lb/>
Güte seines Wesens, die Allgemeinheit seiner Anschauungen, die Gleichmäßig¬<lb/>
kett seiner fließenden, an griechischem Satzbau geschulten Sprache^zu wenig</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0015] wurden, kreuzten sich die Wege der Einzelnen auflas Wunderbarste. Da gab es kein Entrinnen und Verschweigen. Da entstanden die seltsamsten Hoffnungen auf gemeinsames Wirken. An's Staatsgefüge durste Niemand die Hand legen, aber auf rein geistigem Wege ließen sich Staaten höherer Art mit geistiger Organisation herstellen. Was die Freimaurerei auf mora¬ lischem Gebiet bewirkt hatte, das wollten die Romantiker auf ästhetischem erreichen. Schleiermacher allein vielleicht ist es dann gelungen, aus dieser Schule in ein rein- praktisches Wirken hinüberzutreten, das zu harmonischem Abschluß führte. Ihm deshalb, weil die Menschenkenntniß, deren er später bedürfte, auf keinem anderen Wege so reich zu gewinnen gewesen wäre. Was hiermit zur Anzeige des Dilthey'schen Buches gesagt worden ist. kann nicht als ein eigentlicher Reflex dessen gelten wollen, was es enthält. Dilthey macht die Entwickelung der Schleiermacher'schen Philosophie, die er von ihren anfänglichen Elementen an verfolgt, zur Mitte seiner Untersuchungen. Ihm auf dies Gebiet zu folgen, ist die Sache derer, die gleiche Studien trei¬ ben, und diese Anmerkungen gelten nur dem historischen Theile feines Buches. Dilthey war seiner ganzen Anlage nach zum Biographen Schleiermacher's wie prädestinirt. Deshalb würde es vielleicht keinem Anderen gelungen sein, wie ihm, aus dem ihm vorliegenden übermächtigen Materials mit glücklicher Hand nur das nothwendigste zu wählen. Dies nun hat er in seine Arbeit so gut hineinzufügen gewußt, daß nirgends die gleichsam anders zugehauenen Steine Schleiermacher's aus dem Mauerwerke der eignen Sätze Dilthey's fremd hervorstehen. Es kam bei seiner Arbeit auf noch einen Punkt besonders an, mit dessen Erwähnung diese Notiz schließen soll. Wir sind jetzt auf das aus, was das Charakteristische genannt zu werden pflegt. Wir glauben heute die Menschen und Dinge besser zu sehn und deutlicher uns einzuprägen, wenn wir sie unter absichtlich scharfer Beleuchtung, sodaß Licht und Schatten grell aneinander stoßen, vor uns haben, während diejenigen Charaktere am verständlichste» zu sein scheinen, welche von Anfang an von bestimmter Stelle aus die Dinge ansehn und diesen Standpunkt festhalten. Also ein Kopf, wie Rembrandt ihn malt, scheint uns wahrer, als wie ein griechischer Bildhauer ihn in Mar¬ mor dargestellt hätte, und eine Figur aus einem Romane von Dickens lebendiger, als eine der Gestalten, die die Wahlverwandtschaften Goethe's etwa enthalten, oder die in den Dialogen Plato's mitreden. So könnte auch Manchem heute, der Schleiermacher's Briefe gelesen Und seine Wirksamkeit verfolgt hat, der edle Geist des Mannes, die umfassende Güte seines Wesens, die Allgemeinheit seiner Anschauungen, die Gleichmäßig¬ kett seiner fließenden, an griechischem Satzbau geschulten Sprache^zu wenig

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/15
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/15>, abgerufen am 19.05.2024.