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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Volkes wären. Wird dies der Fall sein, so werden wir ihnen den Krieg er-
klären im Namen der allgemeinen nationalen Freiheit und Lebensentfaltung.
Bis dahin sind wir echte Freunde und Gehilfen, denn ihre Sache, der Sturz
des russischen Czarenthums, ist vor allem auch die unsrige. Es wäre also
wünschenswerth, wenn wir uns wenigstens für die Dauer des ersten Aktes
der bevorstehenden alt-slavischen Tragödie zu einem gemeinschaftlichen Han¬
deln einigen könnten. Es würde dies kein Hinderniß sein, während der drei
weiteren Akte feindlich auseinander zu gehen, um uns endlich beim Schlu߬
akt als Brüder wieder zu umarmen!"

Diesem kurzen und erbaulichen Expose' gehen andere Proklamationen
zur Seite, worin die zahlreichen relegirten Studenten aufgefordert werden,
sich den in den Wäldern hausenden Räuberbanden anzuschließen, welche die
"wahren (!) Repräsentanten des russisch-nationalen Lebens und des russischen
Socialismus" genannt werden.

Die Polizei gelangte endlich zur genaueren Kenntniß der Umtriebe, deren
Symptome in der That das Ansehen von Mystifikationen haben. Im Herbst
des vorigen Jahres hatten mehrere junge Leute in geheimen Versammlungen,
die unter dem Vorsitze Netschajeffs abgehalten wurden, den Beschluß gesaßt,
eine revolutionäre Gesellschaft zu bilden, die als Emblem eine Axt (nach an¬
dern Berichten zwei Aexte) erhalten, sich "Comite' der Volksjustiz" nennen und
nach dem Vorbilde des polnischen R2g,ä v^rväs^ organisirt werden sollte.
Bei diesen Berathungen machte ein Student Namens Jwanoff beständig
Opposition, sodaß man ihn zuletzt zu fürchten anfing und aus dem Wege
zu räumen beschloß. Unter dem Vorwande, daß die Druckerei, welche sich
angeblich in einer entfernten Grotte des Gartens der landwirthschaftlichen
Akademie befand, in die Wohnung Jwanoffs geschafft werden sollte, lockte
man diesen am 3. December in einen abgelegenen Winkel, und hier wurde
unter dem Schutze einer undurchdringlichen Finsterniß der Verdächtige er¬
drosselt. Mit Ausnahme des Anstifters sollen alle Schuldigen in den Hän¬
den des Gerichts sein und einer derselben, ein junger Mensch Namens Us-
penski soll bereits Alles gestanden haben. -- Um dieselbe Zeit etwa erhielt
ein Petersburger Geschäftsmann einen aus Genf datirten Brief, der mit Be¬
zugnahme aus frühere, dem Adressaten unbekannt gebliebene Mittheilungen
die Uebersendung von Proclamationen begleitete, welche das Volk auffor¬
derten, am 19. Februar 1870 zu den Beilen zu greifen und das Joch der
gegenwärtigen Regierung zu brechen. (Der 19. Februar d. I. war der Tag,
an welchem die Schollenpflichtigkeit der ehemaligen Leibeigenen aufhört und
die Freizügigkeit der russischen Bauern begann.) Der Empfänger des Briefes
und der Proclamationen wurde bald gewahr, daß der Postbote ihn mit einem
Namensvetter verwechselt hatte und übergab die in seine Hände gefallene


Volkes wären. Wird dies der Fall sein, so werden wir ihnen den Krieg er-
klären im Namen der allgemeinen nationalen Freiheit und Lebensentfaltung.
Bis dahin sind wir echte Freunde und Gehilfen, denn ihre Sache, der Sturz
des russischen Czarenthums, ist vor allem auch die unsrige. Es wäre also
wünschenswerth, wenn wir uns wenigstens für die Dauer des ersten Aktes
der bevorstehenden alt-slavischen Tragödie zu einem gemeinschaftlichen Han¬
deln einigen könnten. Es würde dies kein Hinderniß sein, während der drei
weiteren Akte feindlich auseinander zu gehen, um uns endlich beim Schlu߬
akt als Brüder wieder zu umarmen!"

Diesem kurzen und erbaulichen Expose' gehen andere Proklamationen
zur Seite, worin die zahlreichen relegirten Studenten aufgefordert werden,
sich den in den Wäldern hausenden Räuberbanden anzuschließen, welche die
„wahren (!) Repräsentanten des russisch-nationalen Lebens und des russischen
Socialismus" genannt werden.

Die Polizei gelangte endlich zur genaueren Kenntniß der Umtriebe, deren
Symptome in der That das Ansehen von Mystifikationen haben. Im Herbst
des vorigen Jahres hatten mehrere junge Leute in geheimen Versammlungen,
die unter dem Vorsitze Netschajeffs abgehalten wurden, den Beschluß gesaßt,
eine revolutionäre Gesellschaft zu bilden, die als Emblem eine Axt (nach an¬
dern Berichten zwei Aexte) erhalten, sich „Comite' der Volksjustiz" nennen und
nach dem Vorbilde des polnischen R2g,ä v^rväs^ organisirt werden sollte.
Bei diesen Berathungen machte ein Student Namens Jwanoff beständig
Opposition, sodaß man ihn zuletzt zu fürchten anfing und aus dem Wege
zu räumen beschloß. Unter dem Vorwande, daß die Druckerei, welche sich
angeblich in einer entfernten Grotte des Gartens der landwirthschaftlichen
Akademie befand, in die Wohnung Jwanoffs geschafft werden sollte, lockte
man diesen am 3. December in einen abgelegenen Winkel, und hier wurde
unter dem Schutze einer undurchdringlichen Finsterniß der Verdächtige er¬
drosselt. Mit Ausnahme des Anstifters sollen alle Schuldigen in den Hän¬
den des Gerichts sein und einer derselben, ein junger Mensch Namens Us-
penski soll bereits Alles gestanden haben. — Um dieselbe Zeit etwa erhielt
ein Petersburger Geschäftsmann einen aus Genf datirten Brief, der mit Be¬
zugnahme aus frühere, dem Adressaten unbekannt gebliebene Mittheilungen
die Uebersendung von Proclamationen begleitete, welche das Volk auffor¬
derten, am 19. Februar 1870 zu den Beilen zu greifen und das Joch der
gegenwärtigen Regierung zu brechen. (Der 19. Februar d. I. war der Tag,
an welchem die Schollenpflichtigkeit der ehemaligen Leibeigenen aufhört und
die Freizügigkeit der russischen Bauern begann.) Der Empfänger des Briefes
und der Proclamationen wurde bald gewahr, daß der Postbote ihn mit einem
Namensvetter verwechselt hatte und übergab die in seine Hände gefallene


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/26>, abgerufen am 26.05.2024.