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Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band.

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Das Leben Schleiermacher's von Diltheg.

Es mag zehn Jahre her sein, daß es sich um eine Biographie Goethe's
handelte, deren Bearbeitung von guter Hand ein Buchhändler zu erlangen
bestrebt war. Die Sache wurde damals von verschiedenen Personen, denen
am Zustandekommen eines solchen Buches gelegen war, gründlich besprochen.
Die größte Schwierigkeit schien darin zu liegen, daß uns Goethe noch zu
nahe stand. Es gab für unser Auge noch keinen Punkt, von dem aus ge-
sehen sein Leben als Ganzes genommen sich von natürlich gleichmäßigem
Lichte bestrahlt darbot. Die Herrschaft seines Alters lag uns noch zu mächtig
nahe in der Seele, um die stürmischen Zeiten seines ersten Auftretens als
natürlichen Anfang dazufügen zu dürfen. Er fiel wie in zwei Personen
auseinander, und die Zeiten, die dazwischen gehörten, waren undeutlich und
bildeten keine rechte Brücke.

Heute würde bei einer Darstellung Goethe's Niemand mehr durch solche
Bedenklichkeiten sich behindert fühlen. Goethe ist nun ganz in der Ver¬
gangenheit untergetaucht. Die Wellen eines neuen Daseins rollen ruhig
über die Stelle hin, wo vor Kurzem seine Stirne noch emporragte. Wir
fragen nicht mehr: wie würde Goethe dazu sich gestellt haben? Wir fragen
überhaupt nach dem Urtheil derer nicht mehr, gui ante vos tuers. Aus Epi¬
gonen sind wir plötzlich wieder Deuealionen geworden. Wir meinen zum
erstenmale aus dem Stein zu erwachen, sehen uns mit einer gewissen Ruhe
(die gleichfalls diesen Ursprung nicht verleugnet) Gegenwart und Zukunft an
und wissen bestimmt, daß das Vergangene für immer abgethan sei. Keine über¬
mächtige Verehrung berückt uns mehr den Sinn. Ein Licht, das mehr an
Mondschein als Sonne erinnert, scheint über den Menschen und den Begeben¬
heiten zu liegen und blendet unser Auge nicht. Eine Biographie Goethe's
ließe sich heute aus einem Gusse herstellen. Seine Jugend wäre uns nun
nicht ferner als sein Alter, die innere Bewegung der Tage vor den Stürmen
der französischen Revolution erscheint uns heute historisch ebenso durchsichtig
und interessant als die etwas todte Arbeitsamkeit der zwanziger Jahre, wo


Grenzboten lit. 1370. 1
Das Leben Schleiermacher's von Diltheg.

Es mag zehn Jahre her sein, daß es sich um eine Biographie Goethe's
handelte, deren Bearbeitung von guter Hand ein Buchhändler zu erlangen
bestrebt war. Die Sache wurde damals von verschiedenen Personen, denen
am Zustandekommen eines solchen Buches gelegen war, gründlich besprochen.
Die größte Schwierigkeit schien darin zu liegen, daß uns Goethe noch zu
nahe stand. Es gab für unser Auge noch keinen Punkt, von dem aus ge-
sehen sein Leben als Ganzes genommen sich von natürlich gleichmäßigem
Lichte bestrahlt darbot. Die Herrschaft seines Alters lag uns noch zu mächtig
nahe in der Seele, um die stürmischen Zeiten seines ersten Auftretens als
natürlichen Anfang dazufügen zu dürfen. Er fiel wie in zwei Personen
auseinander, und die Zeiten, die dazwischen gehörten, waren undeutlich und
bildeten keine rechte Brücke.

Heute würde bei einer Darstellung Goethe's Niemand mehr durch solche
Bedenklichkeiten sich behindert fühlen. Goethe ist nun ganz in der Ver¬
gangenheit untergetaucht. Die Wellen eines neuen Daseins rollen ruhig
über die Stelle hin, wo vor Kurzem seine Stirne noch emporragte. Wir
fragen nicht mehr: wie würde Goethe dazu sich gestellt haben? Wir fragen
überhaupt nach dem Urtheil derer nicht mehr, gui ante vos tuers. Aus Epi¬
gonen sind wir plötzlich wieder Deuealionen geworden. Wir meinen zum
erstenmale aus dem Stein zu erwachen, sehen uns mit einer gewissen Ruhe
(die gleichfalls diesen Ursprung nicht verleugnet) Gegenwart und Zukunft an
und wissen bestimmt, daß das Vergangene für immer abgethan sei. Keine über¬
mächtige Verehrung berückt uns mehr den Sinn. Ein Licht, das mehr an
Mondschein als Sonne erinnert, scheint über den Menschen und den Begeben¬
heiten zu liegen und blendet unser Auge nicht. Eine Biographie Goethe's
ließe sich heute aus einem Gusse herstellen. Seine Jugend wäre uns nun
nicht ferner als sein Alter, die innere Bewegung der Tage vor den Stürmen
der französischen Revolution erscheint uns heute historisch ebenso durchsichtig
und interessant als die etwas todte Arbeitsamkeit der zwanziger Jahre, wo


Grenzboten lit. 1370. 1
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[0009] Das Leben Schleiermacher's von Diltheg. Es mag zehn Jahre her sein, daß es sich um eine Biographie Goethe's handelte, deren Bearbeitung von guter Hand ein Buchhändler zu erlangen bestrebt war. Die Sache wurde damals von verschiedenen Personen, denen am Zustandekommen eines solchen Buches gelegen war, gründlich besprochen. Die größte Schwierigkeit schien darin zu liegen, daß uns Goethe noch zu nahe stand. Es gab für unser Auge noch keinen Punkt, von dem aus ge- sehen sein Leben als Ganzes genommen sich von natürlich gleichmäßigem Lichte bestrahlt darbot. Die Herrschaft seines Alters lag uns noch zu mächtig nahe in der Seele, um die stürmischen Zeiten seines ersten Auftretens als natürlichen Anfang dazufügen zu dürfen. Er fiel wie in zwei Personen auseinander, und die Zeiten, die dazwischen gehörten, waren undeutlich und bildeten keine rechte Brücke. Heute würde bei einer Darstellung Goethe's Niemand mehr durch solche Bedenklichkeiten sich behindert fühlen. Goethe ist nun ganz in der Ver¬ gangenheit untergetaucht. Die Wellen eines neuen Daseins rollen ruhig über die Stelle hin, wo vor Kurzem seine Stirne noch emporragte. Wir fragen nicht mehr: wie würde Goethe dazu sich gestellt haben? Wir fragen überhaupt nach dem Urtheil derer nicht mehr, gui ante vos tuers. Aus Epi¬ gonen sind wir plötzlich wieder Deuealionen geworden. Wir meinen zum erstenmale aus dem Stein zu erwachen, sehen uns mit einer gewissen Ruhe (die gleichfalls diesen Ursprung nicht verleugnet) Gegenwart und Zukunft an und wissen bestimmt, daß das Vergangene für immer abgethan sei. Keine über¬ mächtige Verehrung berückt uns mehr den Sinn. Ein Licht, das mehr an Mondschein als Sonne erinnert, scheint über den Menschen und den Begeben¬ heiten zu liegen und blendet unser Auge nicht. Eine Biographie Goethe's ließe sich heute aus einem Gusse herstellen. Seine Jugend wäre uns nun nicht ferner als sein Alter, die innere Bewegung der Tage vor den Stürmen der französischen Revolution erscheint uns heute historisch ebenso durchsichtig und interessant als die etwas todte Arbeitsamkeit der zwanziger Jahre, wo Grenzboten lit. 1370. 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 29, 1870, II. Semeter. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341811_124151/9>, abgerufen am 26.05.2024.