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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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mit neuem Wurfspeer ersetzten. Wehe uns, wenn wir eine entscheidende Schlacht
verloren hätten! Dazu die feindliche Nation selbst entartet in zwanzigjähriger
würdeloser Knechtschaft, nur in der Lüge unübertroffen, zu jeder Hinterlist und
Tücke gegen uns bereit und entschlossen; an materiellen Hilfsmitteln und an
werthlosen Menschen, deren Tod auf dem Schlachtfeld ihre brauchbarste Ver¬
wendung war, uns unendlich überlegen- Jeder Todte und Verwundete, den
Deutschland im Krieg opfern mußte, war ja seiner Bildung und häuslichen
Stellung und Pflicht nach von unendlich werthvolleren Stoff, als der fran¬
zösische Soldat, den das gleiche Schicksal ereilte. Wenn nach dem wahren
innern, durch Bildung, Leistungsfähigkeit und Sittlichkeit bestimmten Cultur¬
werth der Tausende, die auf beiden Seiten geblutet haben, dereinst die große
Schlußrechnung über die Opfer des Krieges gezogen wird -- so wird Deutsch¬
land zweifellos das größte Opfer auf seiner Seite sehen.

Diese in allen Gauen Deutschlands gleich schmerzlich empfundenen, täglich sich
mehrenden Opfer der Nation an Gut und Blut vereinigten unser ganzes Volk ohne
Ansehn der Parteien, des Standes und des Glaubens, Regierende und Re¬
gierte, von Anbeginn des Kriegs an in dem einmüthigen Gedanken: daß nur
das Gemeingefühl aller Deutschen so Großes möglich machte, daß das in
Frankreich für das gemeinsame Vaterland vergossene theure Blut der feste
Kitt sei, der ganz Deutschland unlöslich zusammenfüge. Und nur wenn "die
blanke unverstümmelte Germania wieder aus der Grube steige", wie einst
Uhland im Frankfurter Parlament vom geeinten Staate der Deutschen ge¬
sprochen hatte, nur wenn die Mainlinie aufhörte, und die Westgrenzen Deutsch¬
lands vorgerückt wurden bis nach Belfort, Metz und Diedenhofen, um den
Ruhestörer bei künftigen Einfall schon an der Mosel zu empfangen, hielt
man das theure Blut durch den künftigen Frieden gesühnt und vergolten.
Mit wehmüthiger Freude dürfen wir jetzt schon, ehe das alte Jahr zu Rüste
geht, uns sagen, daß dieser hohe Siegespreis gewonnen ist. Jede Kundge¬
bung des leitenden deutschen Staatsmannes über die künftige Westgrenze
Deutschlands verheißt unsern kühnsten Hoffnungen Erfüllung. Und die deutsche
Einheit steht leibhaftig vor unsern Augen, nicht mehr das Gebilde unserer
Träume, unserer Feste und Reden, fondern besiegelt von den Fürsten, bekräf¬
tigt von den Vertretern des Volkes, unter dem Schutz und Schirm des sieg¬
gekrönten deutschen Kaisers aus dem Hause der Hohenzollern.

Die neue Verfassung des deutschen Reichs hat dasselbe Schicksal erlitten,
wie alle deutschen Verfassungen und Verfassungsentwürfe der letzten zwei und
zwanzig Jahre; sie ist bei ihrem ersten Erscheinen kalt und fremd aufgenom¬
men worden von einem großen, und nicht dem schlechtesten Theile unsres
Volkes, unsrer Presse. Lange stand ihre unveränderte Annahme in Frage,
nicht nur bei der ultramontanen Kammermehrheit in Bayern, die durch eine


mit neuem Wurfspeer ersetzten. Wehe uns, wenn wir eine entscheidende Schlacht
verloren hätten! Dazu die feindliche Nation selbst entartet in zwanzigjähriger
würdeloser Knechtschaft, nur in der Lüge unübertroffen, zu jeder Hinterlist und
Tücke gegen uns bereit und entschlossen; an materiellen Hilfsmitteln und an
werthlosen Menschen, deren Tod auf dem Schlachtfeld ihre brauchbarste Ver¬
wendung war, uns unendlich überlegen- Jeder Todte und Verwundete, den
Deutschland im Krieg opfern mußte, war ja seiner Bildung und häuslichen
Stellung und Pflicht nach von unendlich werthvolleren Stoff, als der fran¬
zösische Soldat, den das gleiche Schicksal ereilte. Wenn nach dem wahren
innern, durch Bildung, Leistungsfähigkeit und Sittlichkeit bestimmten Cultur¬
werth der Tausende, die auf beiden Seiten geblutet haben, dereinst die große
Schlußrechnung über die Opfer des Krieges gezogen wird — so wird Deutsch¬
land zweifellos das größte Opfer auf seiner Seite sehen.

Diese in allen Gauen Deutschlands gleich schmerzlich empfundenen, täglich sich
mehrenden Opfer der Nation an Gut und Blut vereinigten unser ganzes Volk ohne
Ansehn der Parteien, des Standes und des Glaubens, Regierende und Re¬
gierte, von Anbeginn des Kriegs an in dem einmüthigen Gedanken: daß nur
das Gemeingefühl aller Deutschen so Großes möglich machte, daß das in
Frankreich für das gemeinsame Vaterland vergossene theure Blut der feste
Kitt sei, der ganz Deutschland unlöslich zusammenfüge. Und nur wenn „die
blanke unverstümmelte Germania wieder aus der Grube steige", wie einst
Uhland im Frankfurter Parlament vom geeinten Staate der Deutschen ge¬
sprochen hatte, nur wenn die Mainlinie aufhörte, und die Westgrenzen Deutsch¬
lands vorgerückt wurden bis nach Belfort, Metz und Diedenhofen, um den
Ruhestörer bei künftigen Einfall schon an der Mosel zu empfangen, hielt
man das theure Blut durch den künftigen Frieden gesühnt und vergolten.
Mit wehmüthiger Freude dürfen wir jetzt schon, ehe das alte Jahr zu Rüste
geht, uns sagen, daß dieser hohe Siegespreis gewonnen ist. Jede Kundge¬
bung des leitenden deutschen Staatsmannes über die künftige Westgrenze
Deutschlands verheißt unsern kühnsten Hoffnungen Erfüllung. Und die deutsche
Einheit steht leibhaftig vor unsern Augen, nicht mehr das Gebilde unserer
Träume, unserer Feste und Reden, fondern besiegelt von den Fürsten, bekräf¬
tigt von den Vertretern des Volkes, unter dem Schutz und Schirm des sieg¬
gekrönten deutschen Kaisers aus dem Hause der Hohenzollern.

Die neue Verfassung des deutschen Reichs hat dasselbe Schicksal erlitten,
wie alle deutschen Verfassungen und Verfassungsentwürfe der letzten zwei und
zwanzig Jahre; sie ist bei ihrem ersten Erscheinen kalt und fremd aufgenom¬
men worden von einem großen, und nicht dem schlechtesten Theile unsres
Volkes, unsrer Presse. Lange stand ihre unveränderte Annahme in Frage,
nicht nur bei der ultramontanen Kammermehrheit in Bayern, die durch eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/12>, abgerufen am 24.05.2024.