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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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des Antropomorphismus erstiegen wurde, d. h. als man anfing, die Erschei¬
nungen im Bilde menschlich gestalteter Gottheiten aufzufassen, da blieben
jene Thierbilder doch noch als Attribute der neuen Gottheiten zurück, und
der deutsche Sturmgott Wodan erscheint deshalb im Geleit von Wölfen und
Raben, ja wohl gar selbst mit einem Adlerkopf, stets aber, und dies ist ein
durchaus charakteristischer Zug, zu Rosse, als ein reitender Gott. --
Und wenn uns ja überhaupt "Roß und Reiter" gewissermaßen als ein
Wesen erscheinen, so ist dies bei Wodan und seinem Rosse Sleipnir im
höchsten Maße der Fall; denn beide bezeichnen und bedeuten ursprünglich
wirklich ein und dasselbe Naturprincip. -- Milchweiß ist dies wunderbare
Roß, Feuer sprüht ihm aus den Nüstern und die nordische Mythe erkennt
ihm sogar acht Füße zu, sowohl um seine ungeheure Schnelligkeit auszudrücken,
als um die acht Hauptrichtungen der Windrose zu symbolisiren. Auf seinem
Rücken trägt es den hohen gewaltigen Reiter, um dessen Schultern sich stets
ein langwallender Mantel schmiegt, und dessen Haupt selten ein Helm, fast
immer aber ein großer breitkrämpiger Hut-bedeckt. Hut und Mantel aber
sind wie das Roß Natursymbol; es sind Abbilder der bedeckenden und um¬
hüllenden Wolkenmassen, als welche sie beide in unsren Märchen als Nebel¬
kappe und Wunschmantel noch heute große Rollen spielen. So ganz und
gar gehörten sie zur wesentlichen Erscheinung Wodan's, daß sogar mehrere
seiner Beinamen von ihnen hergenommen sind. Nach dem Hut nannten
die Skandinaven ihn Odhien-Hödhr, d. h. Odhien - Hutträger; nach dem
Mantel nennen die Westfalen ihn Hackelbärend d. h. Mantelträger.

Bedeutungsvoller und weit ausschauender ist jedoch der eigentliche Name
des germanischen Sturmgottes. Derselbe lautet hochdeutsch: Wuotan, nie¬
derdeutsch, wie wir ihn schon angewendet: Wodan, nordisch: Odhinn.
Das Wort ist stammverwandt mit "Wuth" und bedeutetet den stürmisch
Einherbrausenden. Das althochdeutsche: "wuoti" bezeichnete nämlich nicht
wie unser heutiges Wort "Wuth" eine ohnmächtige Leidenschaft, sondern
jedes unwiderstehliche Vorwärtsdringen*), zunächst in der Welt der Körper,
dann aber auch in der des Geistes. Es ist also eine durchaus treffende Be¬
zeichnung nicht nur des Sturmgottes, sondern auch jenes vorher geschilderten,
dem "Heiligen Vater Aether" und dem großen weitumfassenden Element der
Luft entsprechenden göttlichen Princips.

Dies Princip, welches den Gott der bewegten Luft unmittelbar und
durchaus ungezwungen in die Sphäre eines Himmelsgottes erhebt, führte
denn auch ganz naturgemäß dahin, den Jahresgott in ihm zu erblicken;



') Vergl. althochdeutsch: n^tan, mittelhochd. vaton, soviel wie gehe", dringen,
waten ^hievon die Wade), nat. xnaSars, provenc. ßna^r, franz. g-nösi-. Vergl. endlich
auch das Fmnz, v"--t --on.

des Antropomorphismus erstiegen wurde, d. h. als man anfing, die Erschei¬
nungen im Bilde menschlich gestalteter Gottheiten aufzufassen, da blieben
jene Thierbilder doch noch als Attribute der neuen Gottheiten zurück, und
der deutsche Sturmgott Wodan erscheint deshalb im Geleit von Wölfen und
Raben, ja wohl gar selbst mit einem Adlerkopf, stets aber, und dies ist ein
durchaus charakteristischer Zug, zu Rosse, als ein reitender Gott. —
Und wenn uns ja überhaupt „Roß und Reiter" gewissermaßen als ein
Wesen erscheinen, so ist dies bei Wodan und seinem Rosse Sleipnir im
höchsten Maße der Fall; denn beide bezeichnen und bedeuten ursprünglich
wirklich ein und dasselbe Naturprincip. — Milchweiß ist dies wunderbare
Roß, Feuer sprüht ihm aus den Nüstern und die nordische Mythe erkennt
ihm sogar acht Füße zu, sowohl um seine ungeheure Schnelligkeit auszudrücken,
als um die acht Hauptrichtungen der Windrose zu symbolisiren. Auf seinem
Rücken trägt es den hohen gewaltigen Reiter, um dessen Schultern sich stets
ein langwallender Mantel schmiegt, und dessen Haupt selten ein Helm, fast
immer aber ein großer breitkrämpiger Hut-bedeckt. Hut und Mantel aber
sind wie das Roß Natursymbol; es sind Abbilder der bedeckenden und um¬
hüllenden Wolkenmassen, als welche sie beide in unsren Märchen als Nebel¬
kappe und Wunschmantel noch heute große Rollen spielen. So ganz und
gar gehörten sie zur wesentlichen Erscheinung Wodan's, daß sogar mehrere
seiner Beinamen von ihnen hergenommen sind. Nach dem Hut nannten
die Skandinaven ihn Odhien-Hödhr, d. h. Odhien - Hutträger; nach dem
Mantel nennen die Westfalen ihn Hackelbärend d. h. Mantelträger.

Bedeutungsvoller und weit ausschauender ist jedoch der eigentliche Name
des germanischen Sturmgottes. Derselbe lautet hochdeutsch: Wuotan, nie¬
derdeutsch, wie wir ihn schon angewendet: Wodan, nordisch: Odhinn.
Das Wort ist stammverwandt mit „Wuth" und bedeutetet den stürmisch
Einherbrausenden. Das althochdeutsche: „wuoti" bezeichnete nämlich nicht
wie unser heutiges Wort „Wuth" eine ohnmächtige Leidenschaft, sondern
jedes unwiderstehliche Vorwärtsdringen*), zunächst in der Welt der Körper,
dann aber auch in der des Geistes. Es ist also eine durchaus treffende Be¬
zeichnung nicht nur des Sturmgottes, sondern auch jenes vorher geschilderten,
dem „Heiligen Vater Aether" und dem großen weitumfassenden Element der
Luft entsprechenden göttlichen Princips.

Dies Princip, welches den Gott der bewegten Luft unmittelbar und
durchaus ungezwungen in die Sphäre eines Himmelsgottes erhebt, führte
denn auch ganz naturgemäß dahin, den Jahresgott in ihm zu erblicken;



') Vergl. althochdeutsch: n^tan, mittelhochd. vaton, soviel wie gehe», dringen,
waten ^hievon die Wade), nat. xnaSars, provenc. ßna^r, franz. g-nösi-. Vergl. endlich
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[0175] des Antropomorphismus erstiegen wurde, d. h. als man anfing, die Erschei¬ nungen im Bilde menschlich gestalteter Gottheiten aufzufassen, da blieben jene Thierbilder doch noch als Attribute der neuen Gottheiten zurück, und der deutsche Sturmgott Wodan erscheint deshalb im Geleit von Wölfen und Raben, ja wohl gar selbst mit einem Adlerkopf, stets aber, und dies ist ein durchaus charakteristischer Zug, zu Rosse, als ein reitender Gott. — Und wenn uns ja überhaupt „Roß und Reiter" gewissermaßen als ein Wesen erscheinen, so ist dies bei Wodan und seinem Rosse Sleipnir im höchsten Maße der Fall; denn beide bezeichnen und bedeuten ursprünglich wirklich ein und dasselbe Naturprincip. — Milchweiß ist dies wunderbare Roß, Feuer sprüht ihm aus den Nüstern und die nordische Mythe erkennt ihm sogar acht Füße zu, sowohl um seine ungeheure Schnelligkeit auszudrücken, als um die acht Hauptrichtungen der Windrose zu symbolisiren. Auf seinem Rücken trägt es den hohen gewaltigen Reiter, um dessen Schultern sich stets ein langwallender Mantel schmiegt, und dessen Haupt selten ein Helm, fast immer aber ein großer breitkrämpiger Hut-bedeckt. Hut und Mantel aber sind wie das Roß Natursymbol; es sind Abbilder der bedeckenden und um¬ hüllenden Wolkenmassen, als welche sie beide in unsren Märchen als Nebel¬ kappe und Wunschmantel noch heute große Rollen spielen. So ganz und gar gehörten sie zur wesentlichen Erscheinung Wodan's, daß sogar mehrere seiner Beinamen von ihnen hergenommen sind. Nach dem Hut nannten die Skandinaven ihn Odhien-Hödhr, d. h. Odhien - Hutträger; nach dem Mantel nennen die Westfalen ihn Hackelbärend d. h. Mantelträger. Bedeutungsvoller und weit ausschauender ist jedoch der eigentliche Name des germanischen Sturmgottes. Derselbe lautet hochdeutsch: Wuotan, nie¬ derdeutsch, wie wir ihn schon angewendet: Wodan, nordisch: Odhinn. Das Wort ist stammverwandt mit „Wuth" und bedeutetet den stürmisch Einherbrausenden. Das althochdeutsche: „wuoti" bezeichnete nämlich nicht wie unser heutiges Wort „Wuth" eine ohnmächtige Leidenschaft, sondern jedes unwiderstehliche Vorwärtsdringen*), zunächst in der Welt der Körper, dann aber auch in der des Geistes. Es ist also eine durchaus treffende Be¬ zeichnung nicht nur des Sturmgottes, sondern auch jenes vorher geschilderten, dem „Heiligen Vater Aether" und dem großen weitumfassenden Element der Luft entsprechenden göttlichen Princips. Dies Princip, welches den Gott der bewegten Luft unmittelbar und durchaus ungezwungen in die Sphäre eines Himmelsgottes erhebt, führte denn auch ganz naturgemäß dahin, den Jahresgott in ihm zu erblicken; ') Vergl. althochdeutsch: n^tan, mittelhochd. vaton, soviel wie gehe», dringen, waten ^hievon die Wade), nat. xnaSars, provenc. ßna^r, franz. g-nösi-. Vergl. endlich auch das Fmnz, v»—t —on.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/175>, abgerufen am 18.06.2024.