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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band.

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preußische Staatsanzeiger uns belehrte, daß das Vordringen der 2. Armee
gegen die Loire deshalb so langsam von Statten gegangen sei, weil fanatische
Priester, an ihrer Spitze der Erzbischof von Orleans, das Volk zur Wuth
gegen uns aufgestachelt hätten? Die Hand des preußischen Cultus Ministers
bietet dem Volke, welches geistiges Brot verlangt, längst einen Stein. Es ist
die Aufgabe derjenigen, welche bisher das dankbare Feld des freiwilligen
deutschen Bildungswesens bebaut haben, darüber zu wachen, daß in den kom¬
menden Tagen der Gleichgiltigkeit, Mattigkeit und scheinbaren Lähmung diese
edle Pflanze deutscher Cultur nicht verkümmere, sondern, sorgfältig gepflegt,
sich in kommenden besseren Tagen zu noch ungeahnter Größe entfalte.

Es wird für den künftigen Fortsetzer Buckle's, der die Geschichte der
deutschen Civilisation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schreiben
wird, immer eine merkwürdige Thatsache sein, daß die preußische Regierung,
welche unter allen Regierungen der Welt zuerst den Unterrichtszwang ein¬
geführt hatte, sich fast zwei Jahrzehnte lang theils ablehnend, theils gleich-
giltig gegen das freiwillige Bildungswesen verhielt. Und doch verlangte dies
nichts von ihr als Duldung. Diese Thatsache wäre unerklärbar, wenn man
nicht im Auge behielte, daß während dieses Zeitraums in Preußen fast un¬
unterbrochen Ministerien am Ruder waren, denen der Begriff Bildung gleich¬
bedeutend mit Liberalismus war, welchen sie bekämpften. Das unterdrückte
politische Leben suchte und fand in diesem Zeitabschnitt einen Ausweg und
eine Freistätte in den deutschen Bildungsvereinen. Diese merkwürdige Er¬
scheinung gipfelte in der wunderlichen Schillerfeier zu Berlin im Jahre 1859,
die sich geradezu zu einer politischen Demonstration gestaltete. Man machte
aus dem Dichter einen Heros der Freiheit, um diese überhaupt preisen zu
dürfen und um das schüchterne Ministerium der neuen Aera auf seinem schwan¬
kenden und dornenvollen Wege zu ermuthigen. Diese Auffassung erklärt auch
zur Genüge, weshalb dem Bildungswesen von Seiten der conservativen und
kirchlichen Partei nie die geringste Förderung zu Theil wurde. Da diese
Parteien während dieses ganzen Zeitraumes von 48 -- 66 die herrschenden
waren, so erklärt sich ferner, weshalb das freiwillige Bildungswesen in
Preußen nur in großen Städten verhältnißmäßig gedieh. Diese hatten einen
Ueberfluß an unabhängigen gelehrten Kräften, welche Idealismus genug be¬
saßen, sich der Sache der Volksbildung freiwillig und unentgeltlich anzunehmen.
In kleineren Städten und auf dem Lande fehlten diese. Die vorhandenen
Lehrer und Beamten, die sich hier der Sache annehmen können, lebten näher
unter den Augen ihrer Vorgesetzten und sahen an den Mienen derselben, wie
wenig Anerkennung für ihre Betheiligung an Volksbildungs-Vereinen in Aus¬
sicht stand. Eine Anzahl dieser Vereine schloß, um die Theilnahme von Leh¬
rern zu ermöglichen, die ihnen als Lehrkräfte unentbehrlich waren, grundsätz-


preußische Staatsanzeiger uns belehrte, daß das Vordringen der 2. Armee
gegen die Loire deshalb so langsam von Statten gegangen sei, weil fanatische
Priester, an ihrer Spitze der Erzbischof von Orleans, das Volk zur Wuth
gegen uns aufgestachelt hätten? Die Hand des preußischen Cultus Ministers
bietet dem Volke, welches geistiges Brot verlangt, längst einen Stein. Es ist
die Aufgabe derjenigen, welche bisher das dankbare Feld des freiwilligen
deutschen Bildungswesens bebaut haben, darüber zu wachen, daß in den kom¬
menden Tagen der Gleichgiltigkeit, Mattigkeit und scheinbaren Lähmung diese
edle Pflanze deutscher Cultur nicht verkümmere, sondern, sorgfältig gepflegt,
sich in kommenden besseren Tagen zu noch ungeahnter Größe entfalte.

Es wird für den künftigen Fortsetzer Buckle's, der die Geschichte der
deutschen Civilisation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schreiben
wird, immer eine merkwürdige Thatsache sein, daß die preußische Regierung,
welche unter allen Regierungen der Welt zuerst den Unterrichtszwang ein¬
geführt hatte, sich fast zwei Jahrzehnte lang theils ablehnend, theils gleich-
giltig gegen das freiwillige Bildungswesen verhielt. Und doch verlangte dies
nichts von ihr als Duldung. Diese Thatsache wäre unerklärbar, wenn man
nicht im Auge behielte, daß während dieses Zeitraums in Preußen fast un¬
unterbrochen Ministerien am Ruder waren, denen der Begriff Bildung gleich¬
bedeutend mit Liberalismus war, welchen sie bekämpften. Das unterdrückte
politische Leben suchte und fand in diesem Zeitabschnitt einen Ausweg und
eine Freistätte in den deutschen Bildungsvereinen. Diese merkwürdige Er¬
scheinung gipfelte in der wunderlichen Schillerfeier zu Berlin im Jahre 1859,
die sich geradezu zu einer politischen Demonstration gestaltete. Man machte
aus dem Dichter einen Heros der Freiheit, um diese überhaupt preisen zu
dürfen und um das schüchterne Ministerium der neuen Aera auf seinem schwan¬
kenden und dornenvollen Wege zu ermuthigen. Diese Auffassung erklärt auch
zur Genüge, weshalb dem Bildungswesen von Seiten der conservativen und
kirchlichen Partei nie die geringste Förderung zu Theil wurde. Da diese
Parteien während dieses ganzen Zeitraumes von 48 — 66 die herrschenden
waren, so erklärt sich ferner, weshalb das freiwillige Bildungswesen in
Preußen nur in großen Städten verhältnißmäßig gedieh. Diese hatten einen
Ueberfluß an unabhängigen gelehrten Kräften, welche Idealismus genug be¬
saßen, sich der Sache der Volksbildung freiwillig und unentgeltlich anzunehmen.
In kleineren Städten und auf dem Lande fehlten diese. Die vorhandenen
Lehrer und Beamten, die sich hier der Sache annehmen können, lebten näher
unter den Augen ihrer Vorgesetzten und sahen an den Mienen derselben, wie
wenig Anerkennung für ihre Betheiligung an Volksbildungs-Vereinen in Aus¬
sicht stand. Eine Anzahl dieser Vereine schloß, um die Theilnahme von Leh¬
rern zu ermöglichen, die ihnen als Lehrkräfte unentbehrlich waren, grundsätz-


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[0035] preußische Staatsanzeiger uns belehrte, daß das Vordringen der 2. Armee gegen die Loire deshalb so langsam von Statten gegangen sei, weil fanatische Priester, an ihrer Spitze der Erzbischof von Orleans, das Volk zur Wuth gegen uns aufgestachelt hätten? Die Hand des preußischen Cultus Ministers bietet dem Volke, welches geistiges Brot verlangt, längst einen Stein. Es ist die Aufgabe derjenigen, welche bisher das dankbare Feld des freiwilligen deutschen Bildungswesens bebaut haben, darüber zu wachen, daß in den kom¬ menden Tagen der Gleichgiltigkeit, Mattigkeit und scheinbaren Lähmung diese edle Pflanze deutscher Cultur nicht verkümmere, sondern, sorgfältig gepflegt, sich in kommenden besseren Tagen zu noch ungeahnter Größe entfalte. Es wird für den künftigen Fortsetzer Buckle's, der die Geschichte der deutschen Civilisation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schreiben wird, immer eine merkwürdige Thatsache sein, daß die preußische Regierung, welche unter allen Regierungen der Welt zuerst den Unterrichtszwang ein¬ geführt hatte, sich fast zwei Jahrzehnte lang theils ablehnend, theils gleich- giltig gegen das freiwillige Bildungswesen verhielt. Und doch verlangte dies nichts von ihr als Duldung. Diese Thatsache wäre unerklärbar, wenn man nicht im Auge behielte, daß während dieses Zeitraums in Preußen fast un¬ unterbrochen Ministerien am Ruder waren, denen der Begriff Bildung gleich¬ bedeutend mit Liberalismus war, welchen sie bekämpften. Das unterdrückte politische Leben suchte und fand in diesem Zeitabschnitt einen Ausweg und eine Freistätte in den deutschen Bildungsvereinen. Diese merkwürdige Er¬ scheinung gipfelte in der wunderlichen Schillerfeier zu Berlin im Jahre 1859, die sich geradezu zu einer politischen Demonstration gestaltete. Man machte aus dem Dichter einen Heros der Freiheit, um diese überhaupt preisen zu dürfen und um das schüchterne Ministerium der neuen Aera auf seinem schwan¬ kenden und dornenvollen Wege zu ermuthigen. Diese Auffassung erklärt auch zur Genüge, weshalb dem Bildungswesen von Seiten der conservativen und kirchlichen Partei nie die geringste Förderung zu Theil wurde. Da diese Parteien während dieses ganzen Zeitraumes von 48 — 66 die herrschenden waren, so erklärt sich ferner, weshalb das freiwillige Bildungswesen in Preußen nur in großen Städten verhältnißmäßig gedieh. Diese hatten einen Ueberfluß an unabhängigen gelehrten Kräften, welche Idealismus genug be¬ saßen, sich der Sache der Volksbildung freiwillig und unentgeltlich anzunehmen. In kleineren Städten und auf dem Lande fehlten diese. Die vorhandenen Lehrer und Beamten, die sich hier der Sache annehmen können, lebten näher unter den Augen ihrer Vorgesetzten und sahen an den Mienen derselben, wie wenig Anerkennung für ihre Betheiligung an Volksbildungs-Vereinen in Aus¬ sicht stand. Eine Anzahl dieser Vereine schloß, um die Theilnahme von Leh¬ rern zu ermöglichen, die ihnen als Lehrkräfte unentbehrlich waren, grundsätz-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_125243/35>, abgerufen am 18.05.2024.