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Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band.

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Nun wohl, dann müssen wir uns entschließen, die Ostseeprovinzen zu erobern.
Nun bilden diese einen Küstensaum ohne Hinterland, den wohl eine seewärtige
Kolonisation besiedeln konnte, der aber nimmermehr für sich einen gesicherten
politischen Besitz darstellen kann. Wir müßten also ein gutes Stück des in¬
neren Nußland dazu erobern, das heißt, wir müßten die namenlose Thorheit
begehen, die wir eben mit voller Ueberzeugung den ernsthaften russischen Ge¬
sichtspuncten für fernliegend erklärten, uns ein großes Stück fremder Natio¬
nalität einzuverleiben.

Wir können für die deutschen Bewohner der Ostseeprovinzen, die dort
eine allerdings nur durch ihre Bildung und sociale Stellung bevorzugte Mino¬
rität sind, so wenig einschreiten, als wir jemals etwas für die Deutschen in
den Vereinigten Staaten thun könnten, wenn dieselben sich mit ihren dortigen
Mitbürgern überwerfen sollten. Wer das nicht einsieht, wer den Kaiser von
Deutschland zum Protector aller deutschen Ausgewanderten in der ganzen
Welt machen will, der verlangt, daß die Deutschen allein die Erde beherrschen;
der verliert sich, vielleicht ohne es zu wissen, in einen Ehrgeiz, den unsere
schlimmsten Feinde bemüht sind, uns anzudichten, glücklicherweise ohne bei
vernünftigen Völkern Glauben zu finden.

Was die Ostseeprovinzen betrifft, so müssen wir uns darauf beschränken,
der russischen Negierung alle Weisheit für ihre dortige Politik zu wünschen.
Das Einvernehmen mit dem russischen Reiche darf und kann durch die Ostsee-
Provinzen nicht gestört werden,

Wenn Deutschland wie Rußland alle Ursache haben, ihre gegenseitige
Freundschaft zu pflegen und mit den Früchten derselben zufrieden zu sein, so
wollen wir noch vernehmen, was zwei andere Betheiligte zu dieser Freundschaft
zu sagen haben: Europa und der Liberalismus. Wenn die öffentliche Meinung
Europas von seiner Presse ausgedrückt wird, so haben wir bereits den gün¬
stigsten Ausspruch zu verzeichnen. Mit Ausnahme der französischen Presse
haben alle großen Zeitungen Europas den Trinkspruch des Kaisers Alexan¬
der mit Beifall aufgenommen als ein Symbol, das Europa eine friedliche
Periode verheißt, auf die es endlich wieder ein Recht hat. Ein Aufsteigen
Frankreichs bedeutet für Europa allemal eine Periode voll Unsicherheit und
Kriegführung. Es gehört Frankreichs Erschöpfung dazu, damit Europa eine
Zeitlang Ruhe habe, nicht wie Napoleon III. eitlerweise sagte: "Frankreichs
Zufriedenheit." Denn diese Zufriedenheit besteht nur in dem täglich erneuten
Rausche triumphirender Eitelkeit.

Selbst die englische Presse sieht nicht scheel zu Rußlands Freundschaft
mit Deutschland. Sie weiß, daß Deutschland niemals der Verführer und
Gehülfe bei ehrgeizigen Anschlägen ist. Auch die östreichische Presse hat ihren


Nun wohl, dann müssen wir uns entschließen, die Ostseeprovinzen zu erobern.
Nun bilden diese einen Küstensaum ohne Hinterland, den wohl eine seewärtige
Kolonisation besiedeln konnte, der aber nimmermehr für sich einen gesicherten
politischen Besitz darstellen kann. Wir müßten also ein gutes Stück des in¬
neren Nußland dazu erobern, das heißt, wir müßten die namenlose Thorheit
begehen, die wir eben mit voller Ueberzeugung den ernsthaften russischen Ge¬
sichtspuncten für fernliegend erklärten, uns ein großes Stück fremder Natio¬
nalität einzuverleiben.

Wir können für die deutschen Bewohner der Ostseeprovinzen, die dort
eine allerdings nur durch ihre Bildung und sociale Stellung bevorzugte Mino¬
rität sind, so wenig einschreiten, als wir jemals etwas für die Deutschen in
den Vereinigten Staaten thun könnten, wenn dieselben sich mit ihren dortigen
Mitbürgern überwerfen sollten. Wer das nicht einsieht, wer den Kaiser von
Deutschland zum Protector aller deutschen Ausgewanderten in der ganzen
Welt machen will, der verlangt, daß die Deutschen allein die Erde beherrschen;
der verliert sich, vielleicht ohne es zu wissen, in einen Ehrgeiz, den unsere
schlimmsten Feinde bemüht sind, uns anzudichten, glücklicherweise ohne bei
vernünftigen Völkern Glauben zu finden.

Was die Ostseeprovinzen betrifft, so müssen wir uns darauf beschränken,
der russischen Negierung alle Weisheit für ihre dortige Politik zu wünschen.
Das Einvernehmen mit dem russischen Reiche darf und kann durch die Ostsee-
Provinzen nicht gestört werden,

Wenn Deutschland wie Rußland alle Ursache haben, ihre gegenseitige
Freundschaft zu pflegen und mit den Früchten derselben zufrieden zu sein, so
wollen wir noch vernehmen, was zwei andere Betheiligte zu dieser Freundschaft
zu sagen haben: Europa und der Liberalismus. Wenn die öffentliche Meinung
Europas von seiner Presse ausgedrückt wird, so haben wir bereits den gün¬
stigsten Ausspruch zu verzeichnen. Mit Ausnahme der französischen Presse
haben alle großen Zeitungen Europas den Trinkspruch des Kaisers Alexan¬
der mit Beifall aufgenommen als ein Symbol, das Europa eine friedliche
Periode verheißt, auf die es endlich wieder ein Recht hat. Ein Aufsteigen
Frankreichs bedeutet für Europa allemal eine Periode voll Unsicherheit und
Kriegführung. Es gehört Frankreichs Erschöpfung dazu, damit Europa eine
Zeitlang Ruhe habe, nicht wie Napoleon III. eitlerweise sagte: „Frankreichs
Zufriedenheit." Denn diese Zufriedenheit besteht nur in dem täglich erneuten
Rausche triumphirender Eitelkeit.

Selbst die englische Presse sieht nicht scheel zu Rußlands Freundschaft
mit Deutschland. Sie weiß, daß Deutschland niemals der Verführer und
Gehülfe bei ehrgeizigen Anschlägen ist. Auch die östreichische Presse hat ihren


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 30, 1871, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341813_192299/489>, abgerufen am 30.05.2024.