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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band.

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die schauervollen Ereignisse des Jahres 1860 noch in Aller Gedächtniß leben,
und man die Wiederkehr ähnlicher Katastrophen zu fürchten geneigt ist.
Meines Wissens leiden die bisher veröffentlichten Berichte über die betreffenden
Vorfälle an Ungenauigkeit und meist auch an Uebertreibung, und wird des¬
halb eine den Sachverhalt treu wiedergebende Darstellung derselben Ihren
Lesern vielleicht nicht unerwünscht sein.

Wie bekannt, ringen im türkischen Reiche zwei Hauptparteien um die
Herrschaft: die sogenannte alttürkische, conservative, streng am türkischen
Staatsgrundgesetz, dem Koran festhaltende und demgemäß als religiös-fanatisch
geltende, und die Reform-Partei, welche der modernen Civilisation möglichst
Eingang und Geltung zu verschaffen sucht, und auf diese Weise den "kranken
Mann" zu regeneriren hofft.

Mit dem Tode des vorigen Großvezirs Aali Pascha im September dieses
Jahres ist nun die Herrschaft der Reformpartei vorläufig zu Ende gegangen,
und mit dem neuen Ministerium der Pforte, an dessen Spitze Mahmud Pascha
als Großvezir steht, sind die Alttürken ans Ruder gekommen. Der neue
Groszvezir hat nicht gesäumt, dem Systemwechsel sofort dadurch deutlichen
Ausdruck zu geben, daß er die höheren der Reformpartei Angehörigen Beamten
der Pforte, namentlich auch die an der Spitze der Vilayets stehenden, von
ihren Posten entfernte. Dieses Schicksal hat unter Anderen auch den der-
maligen Wali (Generalgouvemeur) von Syrien Raschid Pascha betroffen,
einen allerdings (in Folge seiner Pariser Erziehung) stark französisch ge¬
sinnten, aber jedenfalls intelligenten und europäischer Cultur geneigten Mann;
als seinen Nachfolger nannte das Gerücht erst Ahmed Taufik Pascha, dann
Subhi Pascha, -- beide als vorzugsweise religiös-fanatisch geltend.

In höherem Grade als man zu glauben pflegt, herrscht noch unter den
Anhängern des Islam der alte Fanatismus, diese intolerante Glaubenswuth,
die einst die Christenheit in Schrecken setzte und geißelte; gleich einem Vulkan
kocht er tief im Verborgenen, und wenn ihm die Zeiten auch nicht mehr er¬
lauben, hell und verheerend aufzulösen, so flammt er doch immerhin blitzes¬
ähnlich bald hier bald dort auf in einzelnen Vorkommnissen, welche seine
Existenz erkennen lassen. Er glaubt noch immer an die dereinstige Wiederkehr
der alten Moslem-Herrlichkeit, wo nur der Gläubige Rechte hatte.

Für alle diese Schwärmer mußten natürlich die neuen Verhältnisse, der
Regierungswechsel zu Stambul mit seinen nächsten Folgen, hoch willkommen
sein; sie schienen endlich einmal zur Realisirung der alten Wünsche führen zu
sollen, und wie es scheint, glaubte man nun auch offener hervortreten zu
können.

So bildete denn in Beirut zunächst ein gewisser Hadsch Said Nhama-
dhan, dessen Familie bereits im Rufe des Fanatismus steht, und der, nachdem


die schauervollen Ereignisse des Jahres 1860 noch in Aller Gedächtniß leben,
und man die Wiederkehr ähnlicher Katastrophen zu fürchten geneigt ist.
Meines Wissens leiden die bisher veröffentlichten Berichte über die betreffenden
Vorfälle an Ungenauigkeit und meist auch an Uebertreibung, und wird des¬
halb eine den Sachverhalt treu wiedergebende Darstellung derselben Ihren
Lesern vielleicht nicht unerwünscht sein.

Wie bekannt, ringen im türkischen Reiche zwei Hauptparteien um die
Herrschaft: die sogenannte alttürkische, conservative, streng am türkischen
Staatsgrundgesetz, dem Koran festhaltende und demgemäß als religiös-fanatisch
geltende, und die Reform-Partei, welche der modernen Civilisation möglichst
Eingang und Geltung zu verschaffen sucht, und auf diese Weise den „kranken
Mann" zu regeneriren hofft.

Mit dem Tode des vorigen Großvezirs Aali Pascha im September dieses
Jahres ist nun die Herrschaft der Reformpartei vorläufig zu Ende gegangen,
und mit dem neuen Ministerium der Pforte, an dessen Spitze Mahmud Pascha
als Großvezir steht, sind die Alttürken ans Ruder gekommen. Der neue
Groszvezir hat nicht gesäumt, dem Systemwechsel sofort dadurch deutlichen
Ausdruck zu geben, daß er die höheren der Reformpartei Angehörigen Beamten
der Pforte, namentlich auch die an der Spitze der Vilayets stehenden, von
ihren Posten entfernte. Dieses Schicksal hat unter Anderen auch den der-
maligen Wali (Generalgouvemeur) von Syrien Raschid Pascha betroffen,
einen allerdings (in Folge seiner Pariser Erziehung) stark französisch ge¬
sinnten, aber jedenfalls intelligenten und europäischer Cultur geneigten Mann;
als seinen Nachfolger nannte das Gerücht erst Ahmed Taufik Pascha, dann
Subhi Pascha, — beide als vorzugsweise religiös-fanatisch geltend.

In höherem Grade als man zu glauben pflegt, herrscht noch unter den
Anhängern des Islam der alte Fanatismus, diese intolerante Glaubenswuth,
die einst die Christenheit in Schrecken setzte und geißelte; gleich einem Vulkan
kocht er tief im Verborgenen, und wenn ihm die Zeiten auch nicht mehr er¬
lauben, hell und verheerend aufzulösen, so flammt er doch immerhin blitzes¬
ähnlich bald hier bald dort auf in einzelnen Vorkommnissen, welche seine
Existenz erkennen lassen. Er glaubt noch immer an die dereinstige Wiederkehr
der alten Moslem-Herrlichkeit, wo nur der Gläubige Rechte hatte.

Für alle diese Schwärmer mußten natürlich die neuen Verhältnisse, der
Regierungswechsel zu Stambul mit seinen nächsten Folgen, hoch willkommen
sein; sie schienen endlich einmal zur Realisirung der alten Wünsche führen zu
sollen, und wie es scheint, glaubte man nun auch offener hervortreten zu
können.

So bildete denn in Beirut zunächst ein gewisser Hadsch Said Nhama-
dhan, dessen Familie bereits im Rufe des Fanatismus steht, und der, nachdem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_126853/116>, abgerufen am 29.05.2024.