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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band.

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in Europa die traurige Erscheinung, daß Frankreich, welches vor zehn Jahren
in der That an der Spitze der freihändlerischen Civilisation marschirte, einen
der freisinnigen modernen Handelsverträge nach dem andern löst, die veraltete
Thorheit der Ausfuhrprämien und ähnlichen Tand einer kindischen Volks¬
wirthschaft hervorsucht, und als Heil seiner Zukunft anpreist.

Wir sind weit entfernt, diesem Rückfall in längst überwunden geglaubte
Irrthümer ernstliche Bedeutung für die Zukunft beizumessen. Selbst wenn
Herr Thiers, mit feinen in apostolischer Reinheit vertretenen Idealen moritz-
mohlscher Schutzzollpolitik an der Spitze eines völlig wiede'cerstarkten. schulden¬
freien Frankreich stünde: auch dann würde ihm nie gelingen, die europäischen
Handelsvölker der Freiheit des Verkehrs zu entfremden, oder zu einer Be¬
steuerung der einheimischen Nohproducte zu verleiten, um das europäische
Gleichgewicht mit der französischen Unvernunft herzustellen. Auch in der Ge¬
schichte nationaler wirthschaftlicher Entwickelung gilt der Satz, daß das erste
Tausend schwerer gewonnen wird, als die zweite Million. Die Prüfung ihrer
wirthschaftlichen Reife legten die modernen Völker Europas ab, als sie daheim
bei sich selbst mit den fiscalischen Traditionen der guten alten Zeit brachen
die Privilegien, Schlagbäume, Binnen- und Flußzölle und tausend andere,
Schranken des freien Verkehrs aus dem Wege räumten, endlich große, natür¬
liche, einheitliche Handelsgebiete gewannen. Der Geist der Freiheit, der so¬
weit durchgerungen war, stand an der Grenze des Landes nicht still; allen
Völkern der Erde war er nun bereit, die Hand zu freiem Verkehr zu reichen.
Keinem der europäischen Völker sind diese Prüfungsjahre härter gewesen, ist
die Erreichung dieses Zieles saurer geworden, als dem deutschen Volke. Darum
werden wir Deutschen auch am letzten in die alte Unfreiheit uns zurückführen
lassen. Keinem Volke liegen die Zustände der unnatürlichsten, schmerzlichsten
und beschämendsten Zerrissenheit und Gebundenheit unsrer tüchtigen fleißigen
und schöpferischen Wirthschaft in der Vergangenheit näher als' uns.
Viele der Männer, die in ihrer Jugend die immer erneute Rebellion des dy¬
nastischen Particularismus gegen die Einheit der deutschen Zoll- und Handels¬
politik niederschlagen halfen, stehen noch in guten Jahren, in reifer Kraft
unter uns. Kaum Einer unter ihnen Allen aber hat an dieser guten Arbeit
reicheren und ruhmvolleren Antheil genommen, als der heutige Präsident des
deutschen Neichskanzleramtes und Preußische Staatsminister Del drück. Heute,
wo wir am Ziele unserer Einheitsbestrebungen in politischer und wirthschaft¬
licher Hinsicht stehen, ziemt wohl, jene bescheidene stille Arbeit zu würdigen,
die ^lange Jahrzehnte bevor das neue Deutschland aus den französischen
Schlachtfeldern emporstieg, unter den zahllosen Hindernissen, welche der alte
Bund und das polnische Veto der alten Zollvereinsgliedcr den Einheitsbe¬
strebungen Preußens auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens in den Weg


in Europa die traurige Erscheinung, daß Frankreich, welches vor zehn Jahren
in der That an der Spitze der freihändlerischen Civilisation marschirte, einen
der freisinnigen modernen Handelsverträge nach dem andern löst, die veraltete
Thorheit der Ausfuhrprämien und ähnlichen Tand einer kindischen Volks¬
wirthschaft hervorsucht, und als Heil seiner Zukunft anpreist.

Wir sind weit entfernt, diesem Rückfall in längst überwunden geglaubte
Irrthümer ernstliche Bedeutung für die Zukunft beizumessen. Selbst wenn
Herr Thiers, mit feinen in apostolischer Reinheit vertretenen Idealen moritz-
mohlscher Schutzzollpolitik an der Spitze eines völlig wiede'cerstarkten. schulden¬
freien Frankreich stünde: auch dann würde ihm nie gelingen, die europäischen
Handelsvölker der Freiheit des Verkehrs zu entfremden, oder zu einer Be¬
steuerung der einheimischen Nohproducte zu verleiten, um das europäische
Gleichgewicht mit der französischen Unvernunft herzustellen. Auch in der Ge¬
schichte nationaler wirthschaftlicher Entwickelung gilt der Satz, daß das erste
Tausend schwerer gewonnen wird, als die zweite Million. Die Prüfung ihrer
wirthschaftlichen Reife legten die modernen Völker Europas ab, als sie daheim
bei sich selbst mit den fiscalischen Traditionen der guten alten Zeit brachen
die Privilegien, Schlagbäume, Binnen- und Flußzölle und tausend andere,
Schranken des freien Verkehrs aus dem Wege räumten, endlich große, natür¬
liche, einheitliche Handelsgebiete gewannen. Der Geist der Freiheit, der so¬
weit durchgerungen war, stand an der Grenze des Landes nicht still; allen
Völkern der Erde war er nun bereit, die Hand zu freiem Verkehr zu reichen.
Keinem der europäischen Völker sind diese Prüfungsjahre härter gewesen, ist
die Erreichung dieses Zieles saurer geworden, als dem deutschen Volke. Darum
werden wir Deutschen auch am letzten in die alte Unfreiheit uns zurückführen
lassen. Keinem Volke liegen die Zustände der unnatürlichsten, schmerzlichsten
und beschämendsten Zerrissenheit und Gebundenheit unsrer tüchtigen fleißigen
und schöpferischen Wirthschaft in der Vergangenheit näher als' uns.
Viele der Männer, die in ihrer Jugend die immer erneute Rebellion des dy¬
nastischen Particularismus gegen die Einheit der deutschen Zoll- und Handels¬
politik niederschlagen halfen, stehen noch in guten Jahren, in reifer Kraft
unter uns. Kaum Einer unter ihnen Allen aber hat an dieser guten Arbeit
reicheren und ruhmvolleren Antheil genommen, als der heutige Präsident des
deutschen Neichskanzleramtes und Preußische Staatsminister Del drück. Heute,
wo wir am Ziele unserer Einheitsbestrebungen in politischer und wirthschaft¬
licher Hinsicht stehen, ziemt wohl, jene bescheidene stille Arbeit zu würdigen,
die ^lange Jahrzehnte bevor das neue Deutschland aus den französischen
Schlachtfeldern emporstieg, unter den zahllosen Hindernissen, welche der alte
Bund und das polnische Veto der alten Zollvereinsgliedcr den Einheitsbe¬
strebungen Preußens auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens in den Weg


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[0179] in Europa die traurige Erscheinung, daß Frankreich, welches vor zehn Jahren in der That an der Spitze der freihändlerischen Civilisation marschirte, einen der freisinnigen modernen Handelsverträge nach dem andern löst, die veraltete Thorheit der Ausfuhrprämien und ähnlichen Tand einer kindischen Volks¬ wirthschaft hervorsucht, und als Heil seiner Zukunft anpreist. Wir sind weit entfernt, diesem Rückfall in längst überwunden geglaubte Irrthümer ernstliche Bedeutung für die Zukunft beizumessen. Selbst wenn Herr Thiers, mit feinen in apostolischer Reinheit vertretenen Idealen moritz- mohlscher Schutzzollpolitik an der Spitze eines völlig wiede'cerstarkten. schulden¬ freien Frankreich stünde: auch dann würde ihm nie gelingen, die europäischen Handelsvölker der Freiheit des Verkehrs zu entfremden, oder zu einer Be¬ steuerung der einheimischen Nohproducte zu verleiten, um das europäische Gleichgewicht mit der französischen Unvernunft herzustellen. Auch in der Ge¬ schichte nationaler wirthschaftlicher Entwickelung gilt der Satz, daß das erste Tausend schwerer gewonnen wird, als die zweite Million. Die Prüfung ihrer wirthschaftlichen Reife legten die modernen Völker Europas ab, als sie daheim bei sich selbst mit den fiscalischen Traditionen der guten alten Zeit brachen die Privilegien, Schlagbäume, Binnen- und Flußzölle und tausend andere, Schranken des freien Verkehrs aus dem Wege räumten, endlich große, natür¬ liche, einheitliche Handelsgebiete gewannen. Der Geist der Freiheit, der so¬ weit durchgerungen war, stand an der Grenze des Landes nicht still; allen Völkern der Erde war er nun bereit, die Hand zu freiem Verkehr zu reichen. Keinem der europäischen Völker sind diese Prüfungsjahre härter gewesen, ist die Erreichung dieses Zieles saurer geworden, als dem deutschen Volke. Darum werden wir Deutschen auch am letzten in die alte Unfreiheit uns zurückführen lassen. Keinem Volke liegen die Zustände der unnatürlichsten, schmerzlichsten und beschämendsten Zerrissenheit und Gebundenheit unsrer tüchtigen fleißigen und schöpferischen Wirthschaft in der Vergangenheit näher als' uns. Viele der Männer, die in ihrer Jugend die immer erneute Rebellion des dy¬ nastischen Particularismus gegen die Einheit der deutschen Zoll- und Handels¬ politik niederschlagen halfen, stehen noch in guten Jahren, in reifer Kraft unter uns. Kaum Einer unter ihnen Allen aber hat an dieser guten Arbeit reicheren und ruhmvolleren Antheil genommen, als der heutige Präsident des deutschen Neichskanzleramtes und Preußische Staatsminister Del drück. Heute, wo wir am Ziele unserer Einheitsbestrebungen in politischer und wirthschaft¬ licher Hinsicht stehen, ziemt wohl, jene bescheidene stille Arbeit zu würdigen, die ^lange Jahrzehnte bevor das neue Deutschland aus den französischen Schlachtfeldern emporstieg, unter den zahllosen Hindernissen, welche der alte Bund und das polnische Veto der alten Zollvereinsgliedcr den Einheitsbe¬ strebungen Preußens auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens in den Weg

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_126853/179>, abgerufen am 27.05.2024.