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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band.

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Es war um die Zeit, als General Trochu, Oberbefehlshaber der Pariser
Besatzung, jene verzweifelten Kämpfe vorbereitete, welche nach dem Mißlingen
des Versuchs einer Verbindung mit d'Aurelles de Paladine den Zweck hatten,
die deutschen Stellungen im Westen und Nordosten von Paris zu durch¬
brechen und eine Vereinigung mit Chancy's und Mratry's Truppen, die von
Westen, von Dreux und weiter südlich von Chartres heranrückten, zu erzielen,
Pläne, welche bekanntlich von der Armeeabtheilung des Großherzogs von
Mecklenburg, der 17. Division und unserm braven dritten und zehnten Corps
vereitelt wurden.

Trochu hatte wichtige Depeschen an Gambetta und die Regierungsdele¬
gation in Tours abzusenden; es wurde dazu der 2300 Kubikmeter große
Ballon "ig, Ville ä'Orlöans" mit dem Luftschiffer Paul Roller ausersehen;
als Depeschencourier machte ein Franc-Tireur aus dem Seinedepartement die
Fahrt mit.

Die Reisenden bestiegen am 24. November 1870 auf dem Pariser Nord¬
bahnhofe den Nachen des Ballons, der außerdem 250 Kilogramm Privat¬
depeschen und einen Käfig mit sechs Brieftauben trug, welche dazu bestimmt
waren. Nachrichten von der Ueberkunft des Ballons nach Paris zu bringen.
Die Abfahrt erfolgte 11 Uhr 40 Minuten Abends bei dunkler Nacht, um der
Gefahr zu entgehen, welche von den feindlichen Kugeln den Ballons drohte.
Eine mäßige Brise aus Süd-Süd-Ost führte den Ballon, der sich bis auf
800 Meter Höhe erhoben hatte, in der Richtung Nord-Nord-West über die
Departements Seine und Oise der Somme zu. Um Mitternacht sing der
Ballon an zu sinken, weshalb zwei Säcke Ballast ausgeworfen werden mu߬
ten, in Folge dessen die Höhe von 1400, später 2700 Meter erreicht wurde.
Tief unten dröhnten Kanonenschüsse von den Truppen der Nordarmee her;
aber in dieser erhabenen Region waren die Reisenden der Erde entrückt und
fühlten jene unbeschreibliche Seelenruhe, welche der Anblick des "Unermeßlichen"
erzeugt.

Um 2^2 Uhr früh, als der Ballon etwa bei Se. Vaters-sur-Somme sich
befand, lagerte sich dicker Nebel unter der Gondel und entzog den Luftschiffern
die Aussicht nach unten vollständig; ein dumpfes Geräusch, ähnlich dem¬
jenigen, welches ein in vollem Laufe befindlicher Eisenbahnzug hören läßt,
drang hinaus und brachte die Reisenden auf den Gedanken, sie befänden sich
über einer Eisenbahnroute. Allein das Geräusch dauerte bis zu Tagesanbruch
fort und fing an, beunruhigend zu wirken.

Um 6^4 Uhr Morgens gestattete endlich das Tagesgrauen einen weiteren
Fernblick. Der Ballon war bis zu 1400 Meter Höhe gesunken; am Horizont
erscheinen nicht mehr die Linien des heimathlichen Bodens; furchtbare Ent¬
deckung: es ist das Meer, welches unten grollend seine Wogen rollt. Vor-


Grenzbotm l. 1872. 29

Es war um die Zeit, als General Trochu, Oberbefehlshaber der Pariser
Besatzung, jene verzweifelten Kämpfe vorbereitete, welche nach dem Mißlingen
des Versuchs einer Verbindung mit d'Aurelles de Paladine den Zweck hatten,
die deutschen Stellungen im Westen und Nordosten von Paris zu durch¬
brechen und eine Vereinigung mit Chancy's und Mratry's Truppen, die von
Westen, von Dreux und weiter südlich von Chartres heranrückten, zu erzielen,
Pläne, welche bekanntlich von der Armeeabtheilung des Großherzogs von
Mecklenburg, der 17. Division und unserm braven dritten und zehnten Corps
vereitelt wurden.

Trochu hatte wichtige Depeschen an Gambetta und die Regierungsdele¬
gation in Tours abzusenden; es wurde dazu der 2300 Kubikmeter große
Ballon „ig, Ville ä'Orlöans" mit dem Luftschiffer Paul Roller ausersehen;
als Depeschencourier machte ein Franc-Tireur aus dem Seinedepartement die
Fahrt mit.

Die Reisenden bestiegen am 24. November 1870 auf dem Pariser Nord¬
bahnhofe den Nachen des Ballons, der außerdem 250 Kilogramm Privat¬
depeschen und einen Käfig mit sechs Brieftauben trug, welche dazu bestimmt
waren. Nachrichten von der Ueberkunft des Ballons nach Paris zu bringen.
Die Abfahrt erfolgte 11 Uhr 40 Minuten Abends bei dunkler Nacht, um der
Gefahr zu entgehen, welche von den feindlichen Kugeln den Ballons drohte.
Eine mäßige Brise aus Süd-Süd-Ost führte den Ballon, der sich bis auf
800 Meter Höhe erhoben hatte, in der Richtung Nord-Nord-West über die
Departements Seine und Oise der Somme zu. Um Mitternacht sing der
Ballon an zu sinken, weshalb zwei Säcke Ballast ausgeworfen werden mu߬
ten, in Folge dessen die Höhe von 1400, später 2700 Meter erreicht wurde.
Tief unten dröhnten Kanonenschüsse von den Truppen der Nordarmee her;
aber in dieser erhabenen Region waren die Reisenden der Erde entrückt und
fühlten jene unbeschreibliche Seelenruhe, welche der Anblick des „Unermeßlichen"
erzeugt.

Um 2^2 Uhr früh, als der Ballon etwa bei Se. Vaters-sur-Somme sich
befand, lagerte sich dicker Nebel unter der Gondel und entzog den Luftschiffern
die Aussicht nach unten vollständig; ein dumpfes Geräusch, ähnlich dem¬
jenigen, welches ein in vollem Laufe befindlicher Eisenbahnzug hören läßt,
drang hinaus und brachte die Reisenden auf den Gedanken, sie befänden sich
über einer Eisenbahnroute. Allein das Geräusch dauerte bis zu Tagesanbruch
fort und fing an, beunruhigend zu wirken.

Um 6^4 Uhr Morgens gestattete endlich das Tagesgrauen einen weiteren
Fernblick. Der Ballon war bis zu 1400 Meter Höhe gesunken; am Horizont
erscheinen nicht mehr die Linien des heimathlichen Bodens; furchtbare Ent¬
deckung: es ist das Meer, welches unten grollend seine Wogen rollt. Vor-


Grenzbotm l. 1872. 29
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[0233] Es war um die Zeit, als General Trochu, Oberbefehlshaber der Pariser Besatzung, jene verzweifelten Kämpfe vorbereitete, welche nach dem Mißlingen des Versuchs einer Verbindung mit d'Aurelles de Paladine den Zweck hatten, die deutschen Stellungen im Westen und Nordosten von Paris zu durch¬ brechen und eine Vereinigung mit Chancy's und Mratry's Truppen, die von Westen, von Dreux und weiter südlich von Chartres heranrückten, zu erzielen, Pläne, welche bekanntlich von der Armeeabtheilung des Großherzogs von Mecklenburg, der 17. Division und unserm braven dritten und zehnten Corps vereitelt wurden. Trochu hatte wichtige Depeschen an Gambetta und die Regierungsdele¬ gation in Tours abzusenden; es wurde dazu der 2300 Kubikmeter große Ballon „ig, Ville ä'Orlöans" mit dem Luftschiffer Paul Roller ausersehen; als Depeschencourier machte ein Franc-Tireur aus dem Seinedepartement die Fahrt mit. Die Reisenden bestiegen am 24. November 1870 auf dem Pariser Nord¬ bahnhofe den Nachen des Ballons, der außerdem 250 Kilogramm Privat¬ depeschen und einen Käfig mit sechs Brieftauben trug, welche dazu bestimmt waren. Nachrichten von der Ueberkunft des Ballons nach Paris zu bringen. Die Abfahrt erfolgte 11 Uhr 40 Minuten Abends bei dunkler Nacht, um der Gefahr zu entgehen, welche von den feindlichen Kugeln den Ballons drohte. Eine mäßige Brise aus Süd-Süd-Ost führte den Ballon, der sich bis auf 800 Meter Höhe erhoben hatte, in der Richtung Nord-Nord-West über die Departements Seine und Oise der Somme zu. Um Mitternacht sing der Ballon an zu sinken, weshalb zwei Säcke Ballast ausgeworfen werden mu߬ ten, in Folge dessen die Höhe von 1400, später 2700 Meter erreicht wurde. Tief unten dröhnten Kanonenschüsse von den Truppen der Nordarmee her; aber in dieser erhabenen Region waren die Reisenden der Erde entrückt und fühlten jene unbeschreibliche Seelenruhe, welche der Anblick des „Unermeßlichen" erzeugt. Um 2^2 Uhr früh, als der Ballon etwa bei Se. Vaters-sur-Somme sich befand, lagerte sich dicker Nebel unter der Gondel und entzog den Luftschiffern die Aussicht nach unten vollständig; ein dumpfes Geräusch, ähnlich dem¬ jenigen, welches ein in vollem Laufe befindlicher Eisenbahnzug hören läßt, drang hinaus und brachte die Reisenden auf den Gedanken, sie befänden sich über einer Eisenbahnroute. Allein das Geräusch dauerte bis zu Tagesanbruch fort und fing an, beunruhigend zu wirken. Um 6^4 Uhr Morgens gestattete endlich das Tagesgrauen einen weiteren Fernblick. Der Ballon war bis zu 1400 Meter Höhe gesunken; am Horizont erscheinen nicht mehr die Linien des heimathlichen Bodens; furchtbare Ent¬ deckung: es ist das Meer, welches unten grollend seine Wogen rollt. Vor- Grenzbotm l. 1872. 29

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_126853/233>, abgerufen am 19.05.2024.