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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band.

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Bürgschaft der Ordnung, und die in niedrigeren Regionen des großen Slaven¬
reiches lautgewordenen, oft heftigen Antipathien gegen dieselbe scheinen in den
letzten Monaten wo nicht ganz geschwunden, so doch in der Annäherung an
die Erkenntniß begriffen zu sein, daß die ihnen zu Grunde liegenden Be¬
fürchtungen völlig in der Luft stehen und die wahren Interessen Rußlands
und Deutschlands einander nicht widersprechen. Dieselbe Erkenntniß hat
allem Anschein nach allmählig in den leitenden Sphären Oestreich-Ungarns
Wurzel gefaßt, und der Staatsmann, der gegenwärtig dort die auswärtigen
Geschäfte führt, darf als ein> entschiedener und zuverlässiger Vertreter dieser
Ueberzeugung betrachtet werden. England hat niemals ernste Veranlassung
zu haben geglaubt, auf das Hineinwachsen der Idee der deutschen Einheit in
die Wirklichkeit mit Mißtrauen und Mißgunst zu. blicken, und wenn eine der
beiden dort abwechselnd das Ruder lenkenden großen Parteien früher lieber
Oestreich an unserer Spitze gesehen hätte, so ist kein Grund zu der Annahme
vorhanden, die Mehrheit derselben sähe ungern, daß es anders gekommen.
Eine gewisse Vorliebe für Frankreich, die sich während des Krieges, besonders
nach sedem, in der Presse und bei einzelnen Ministern (z. B. Gladstone)
kundgab, hat wohl vor der Erscheinung der Commune und ähnlichen Symptomen
der Fäulniß erheblich anderen Empfindungen Raum gemacht. Italien endlich
schwankte geraume Zeit zwischen Abneigung und Zuneigung. Das Volk, von
Garibaldi und Genossen abgesehen, begriff sein Interesse gegenüber dem sich
verjüngenden Deutschland eher als der König, der wiederholt und selbst in
den Tagen nach dem Frankfurter Frieden noch, namentlich seit eine gewisse
Persönlichkeit nicht mehr verständigerer Betrachtung das Wort reden konnte,
den Einflüsterungen der franzosenfreundlichen Consorteria das Ohr lieh.
Verläßlichen Nachrichten zufolge hat sich indeß auch hier, nachdem die öffent¬
liche Meinung ihre Sympathien für das neue Reich über den Alpen von Tage
zu Tage deutlicher und einmüthiger geäußert, ein solider Umschwung vollzogen,
von welchem wir demnächst Zeichen erwarten dürfen.

Die Großmächte wären uns also günstig oder doch für jetzt nicht entgegen.
Dagegen hat Preußen und das neue Deutschland' in einigen Kleinstaaten
Nachbarn, an deren Höfen ihm hartnäckige Verstimmung, um nicht zu sagen,
bitterer und dauerhafter Haß, natürlich nicht offen und unverhüllt, sondern
hinter Portiören, aber darum nicht minder herzlich, entgegengetragen wird.
Dahin gehören z. B. die Königin von Holland und der Prinz Heinrich, der
Luxemburg als Stellvertreter des Großherzogs in möglichst deutschfeindlichem
Stile zu regieren bestrebt ist, und dahin werden wir auch die Majestät von
Schweden und Norwegen, Carl den Fünfzehnten zu zählen haben, mit dessen
Stellung zu Deutschland und Frankreich wir uns nunmehr mit einigen An¬
deutungen -- unumwunden zu reden, möchte nicht gerathen sein, auch ists


Grenzboten I. 1872. 49

Bürgschaft der Ordnung, und die in niedrigeren Regionen des großen Slaven¬
reiches lautgewordenen, oft heftigen Antipathien gegen dieselbe scheinen in den
letzten Monaten wo nicht ganz geschwunden, so doch in der Annäherung an
die Erkenntniß begriffen zu sein, daß die ihnen zu Grunde liegenden Be¬
fürchtungen völlig in der Luft stehen und die wahren Interessen Rußlands
und Deutschlands einander nicht widersprechen. Dieselbe Erkenntniß hat
allem Anschein nach allmählig in den leitenden Sphären Oestreich-Ungarns
Wurzel gefaßt, und der Staatsmann, der gegenwärtig dort die auswärtigen
Geschäfte führt, darf als ein> entschiedener und zuverlässiger Vertreter dieser
Ueberzeugung betrachtet werden. England hat niemals ernste Veranlassung
zu haben geglaubt, auf das Hineinwachsen der Idee der deutschen Einheit in
die Wirklichkeit mit Mißtrauen und Mißgunst zu. blicken, und wenn eine der
beiden dort abwechselnd das Ruder lenkenden großen Parteien früher lieber
Oestreich an unserer Spitze gesehen hätte, so ist kein Grund zu der Annahme
vorhanden, die Mehrheit derselben sähe ungern, daß es anders gekommen.
Eine gewisse Vorliebe für Frankreich, die sich während des Krieges, besonders
nach sedem, in der Presse und bei einzelnen Ministern (z. B. Gladstone)
kundgab, hat wohl vor der Erscheinung der Commune und ähnlichen Symptomen
der Fäulniß erheblich anderen Empfindungen Raum gemacht. Italien endlich
schwankte geraume Zeit zwischen Abneigung und Zuneigung. Das Volk, von
Garibaldi und Genossen abgesehen, begriff sein Interesse gegenüber dem sich
verjüngenden Deutschland eher als der König, der wiederholt und selbst in
den Tagen nach dem Frankfurter Frieden noch, namentlich seit eine gewisse
Persönlichkeit nicht mehr verständigerer Betrachtung das Wort reden konnte,
den Einflüsterungen der franzosenfreundlichen Consorteria das Ohr lieh.
Verläßlichen Nachrichten zufolge hat sich indeß auch hier, nachdem die öffent¬
liche Meinung ihre Sympathien für das neue Reich über den Alpen von Tage
zu Tage deutlicher und einmüthiger geäußert, ein solider Umschwung vollzogen,
von welchem wir demnächst Zeichen erwarten dürfen.

Die Großmächte wären uns also günstig oder doch für jetzt nicht entgegen.
Dagegen hat Preußen und das neue Deutschland' in einigen Kleinstaaten
Nachbarn, an deren Höfen ihm hartnäckige Verstimmung, um nicht zu sagen,
bitterer und dauerhafter Haß, natürlich nicht offen und unverhüllt, sondern
hinter Portiören, aber darum nicht minder herzlich, entgegengetragen wird.
Dahin gehören z. B. die Königin von Holland und der Prinz Heinrich, der
Luxemburg als Stellvertreter des Großherzogs in möglichst deutschfeindlichem
Stile zu regieren bestrebt ist, und dahin werden wir auch die Majestät von
Schweden und Norwegen, Carl den Fünfzehnten zu zählen haben, mit dessen
Stellung zu Deutschland und Frankreich wir uns nunmehr mit einigen An¬
deutungen — unumwunden zu reden, möchte nicht gerathen sein, auch ists


Grenzboten I. 1872. 49
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[0393] Bürgschaft der Ordnung, und die in niedrigeren Regionen des großen Slaven¬ reiches lautgewordenen, oft heftigen Antipathien gegen dieselbe scheinen in den letzten Monaten wo nicht ganz geschwunden, so doch in der Annäherung an die Erkenntniß begriffen zu sein, daß die ihnen zu Grunde liegenden Be¬ fürchtungen völlig in der Luft stehen und die wahren Interessen Rußlands und Deutschlands einander nicht widersprechen. Dieselbe Erkenntniß hat allem Anschein nach allmählig in den leitenden Sphären Oestreich-Ungarns Wurzel gefaßt, und der Staatsmann, der gegenwärtig dort die auswärtigen Geschäfte führt, darf als ein> entschiedener und zuverlässiger Vertreter dieser Ueberzeugung betrachtet werden. England hat niemals ernste Veranlassung zu haben geglaubt, auf das Hineinwachsen der Idee der deutschen Einheit in die Wirklichkeit mit Mißtrauen und Mißgunst zu. blicken, und wenn eine der beiden dort abwechselnd das Ruder lenkenden großen Parteien früher lieber Oestreich an unserer Spitze gesehen hätte, so ist kein Grund zu der Annahme vorhanden, die Mehrheit derselben sähe ungern, daß es anders gekommen. Eine gewisse Vorliebe für Frankreich, die sich während des Krieges, besonders nach sedem, in der Presse und bei einzelnen Ministern (z. B. Gladstone) kundgab, hat wohl vor der Erscheinung der Commune und ähnlichen Symptomen der Fäulniß erheblich anderen Empfindungen Raum gemacht. Italien endlich schwankte geraume Zeit zwischen Abneigung und Zuneigung. Das Volk, von Garibaldi und Genossen abgesehen, begriff sein Interesse gegenüber dem sich verjüngenden Deutschland eher als der König, der wiederholt und selbst in den Tagen nach dem Frankfurter Frieden noch, namentlich seit eine gewisse Persönlichkeit nicht mehr verständigerer Betrachtung das Wort reden konnte, den Einflüsterungen der franzosenfreundlichen Consorteria das Ohr lieh. Verläßlichen Nachrichten zufolge hat sich indeß auch hier, nachdem die öffent¬ liche Meinung ihre Sympathien für das neue Reich über den Alpen von Tage zu Tage deutlicher und einmüthiger geäußert, ein solider Umschwung vollzogen, von welchem wir demnächst Zeichen erwarten dürfen. Die Großmächte wären uns also günstig oder doch für jetzt nicht entgegen. Dagegen hat Preußen und das neue Deutschland' in einigen Kleinstaaten Nachbarn, an deren Höfen ihm hartnäckige Verstimmung, um nicht zu sagen, bitterer und dauerhafter Haß, natürlich nicht offen und unverhüllt, sondern hinter Portiören, aber darum nicht minder herzlich, entgegengetragen wird. Dahin gehören z. B. die Königin von Holland und der Prinz Heinrich, der Luxemburg als Stellvertreter des Großherzogs in möglichst deutschfeindlichem Stile zu regieren bestrebt ist, und dahin werden wir auch die Majestät von Schweden und Norwegen, Carl den Fünfzehnten zu zählen haben, mit dessen Stellung zu Deutschland und Frankreich wir uns nunmehr mit einigen An¬ deutungen — unumwunden zu reden, möchte nicht gerathen sein, auch ists Grenzboten I. 1872. 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_126853/393>, abgerufen am 28.05.2024.