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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band.

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wendig ist und immer nothwendiger wird, sowohl für die Aufrechterhaltung
des ungarischen Ausgleiches, als für die Fortexistenz der Monarchie, -- ob diese
neue bessere Ordnung der Zustände außerhalb Ungarns besser oder leichter
durch deutsche oder polnische oder andere Minister geschehe. Uns gilt
gleich, wer sich dies Verdienst erwerbe, wenn nur die Verhältnisse der verschie¬
denen Nationalitäten in irgend ein erträgliches Gleichgewicht gebracht werden.
Uns gilt gleich, ob mehr parlamentarisch oder mehr absolutistisch die Form
der Verfassung und Verwaltung ausfalle, wenn sich uni ein moäus viveuäi
mit Aussicht auf Dauer findet. Uns gilt auch der Weg gleich, auf
dem man zu diesem nöthigen Resultate gelange, sei es durch Weiterentwicklung
der Dinge auf "verfassungsmäßigen Wege", sei es durch Anlehnung an die
historischen Landesverfassungen der einzelnen Theile. Alles andere ist Neben¬
sache -- das allein ist die Lebensfrage, ob sich ein staatsrechtlicher Zustand
herstellen läßt, der als Compromiß der verschiedenen nationalen und politischen
Tendenzen Aussicht auf Lebensfähigkeit und Lebensdauer verspricht.

Bedenklich und besorgnißerregend sind die Symptome des gegenwärtigen
Zustandes für jeden halbwegs unbefangenen Beobachter, der nicht einer der
östreichischen Parteien seine Seele verschrieben, sondern allen neutral und einzig
dem Ganzen zugethan, nur beim Ganzen interessirt sich gegenüberstellt.
Eine Rückkehr absoluten Regimentes ist auf die Dauer unmöglich; die Armee
und das Beamtenthum ist unterhöhlt und innerlich zerfressen; gegenseitiges
Mißtrauen hält Stände und Völkerschaften fern von einander; ultramontane
Tendenzen liegen im Kampfe mit seichtem Rationalismus ohne Kern einer
festen religiösen Gesinnung, Unsittlichkeit herrscht oben und Sittenlosigkeit
unten; die gebildeteren Klassen führen hohle Phrasen im Munde und jagen
materiellem Lebensgenuß nach: begreiflich ist der Pessimismus der die Auslö¬
sung dieses Länderknäuels als eine Eventualität der Zukunft ansieht und sich
darauf einrichtet. Ja, wie viele Deutsche im Kaiserstaate an der Donau
giebt es heute, die den Zerfall ihres Reiches herbeiwünschen und von dem
Anschluß an das neue deutsche Reich schon schwärmen? Ihnen sind wir
verpflichtet, ein ganz offenes, entschiedenes, alle Sentimentalität rückhaltlos
abstreifendes Wort zu sagen.

Nicht wir vermessen uns in die Jahrhunderte der Zukunft zu schauen
und späteren Jahrhunderten ein doetrinäres Schema der zukünftigen Weltge¬
schichte vorzuzeichnen; allein von denjenigen Zeitabschnitten können wir han¬
deln, die als meßbare Größen heute politische Berechnung umspannen darf.
Was aber diese heute allein in Betracht kommende Zukunft angeht, so fordert
das Interesse an dem Wohle unseres deutschen Staates ganz unbedingt, daß
Oestreich in keinem Falle von uns aufgenommen werde. Die Deutschen in
Oestreich sind in der Lage, mit den andern Nationalitäten, mit denen sie ver-


wendig ist und immer nothwendiger wird, sowohl für die Aufrechterhaltung
des ungarischen Ausgleiches, als für die Fortexistenz der Monarchie, — ob diese
neue bessere Ordnung der Zustände außerhalb Ungarns besser oder leichter
durch deutsche oder polnische oder andere Minister geschehe. Uns gilt
gleich, wer sich dies Verdienst erwerbe, wenn nur die Verhältnisse der verschie¬
denen Nationalitäten in irgend ein erträgliches Gleichgewicht gebracht werden.
Uns gilt gleich, ob mehr parlamentarisch oder mehr absolutistisch die Form
der Verfassung und Verwaltung ausfalle, wenn sich uni ein moäus viveuäi
mit Aussicht auf Dauer findet. Uns gilt auch der Weg gleich, auf
dem man zu diesem nöthigen Resultate gelange, sei es durch Weiterentwicklung
der Dinge auf „verfassungsmäßigen Wege", sei es durch Anlehnung an die
historischen Landesverfassungen der einzelnen Theile. Alles andere ist Neben¬
sache — das allein ist die Lebensfrage, ob sich ein staatsrechtlicher Zustand
herstellen läßt, der als Compromiß der verschiedenen nationalen und politischen
Tendenzen Aussicht auf Lebensfähigkeit und Lebensdauer verspricht.

Bedenklich und besorgnißerregend sind die Symptome des gegenwärtigen
Zustandes für jeden halbwegs unbefangenen Beobachter, der nicht einer der
östreichischen Parteien seine Seele verschrieben, sondern allen neutral und einzig
dem Ganzen zugethan, nur beim Ganzen interessirt sich gegenüberstellt.
Eine Rückkehr absoluten Regimentes ist auf die Dauer unmöglich; die Armee
und das Beamtenthum ist unterhöhlt und innerlich zerfressen; gegenseitiges
Mißtrauen hält Stände und Völkerschaften fern von einander; ultramontane
Tendenzen liegen im Kampfe mit seichtem Rationalismus ohne Kern einer
festen religiösen Gesinnung, Unsittlichkeit herrscht oben und Sittenlosigkeit
unten; die gebildeteren Klassen führen hohle Phrasen im Munde und jagen
materiellem Lebensgenuß nach: begreiflich ist der Pessimismus der die Auslö¬
sung dieses Länderknäuels als eine Eventualität der Zukunft ansieht und sich
darauf einrichtet. Ja, wie viele Deutsche im Kaiserstaate an der Donau
giebt es heute, die den Zerfall ihres Reiches herbeiwünschen und von dem
Anschluß an das neue deutsche Reich schon schwärmen? Ihnen sind wir
verpflichtet, ein ganz offenes, entschiedenes, alle Sentimentalität rückhaltlos
abstreifendes Wort zu sagen.

Nicht wir vermessen uns in die Jahrhunderte der Zukunft zu schauen
und späteren Jahrhunderten ein doetrinäres Schema der zukünftigen Weltge¬
schichte vorzuzeichnen; allein von denjenigen Zeitabschnitten können wir han¬
deln, die als meßbare Größen heute politische Berechnung umspannen darf.
Was aber diese heute allein in Betracht kommende Zukunft angeht, so fordert
das Interesse an dem Wohle unseres deutschen Staates ganz unbedingt, daß
Oestreich in keinem Falle von uns aufgenommen werde. Die Deutschen in
Oestreich sind in der Lage, mit den andern Nationalitäten, mit denen sie ver-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_126853/80>, abgerufen am 19.05.2024.